TS26/15: Das unbenannte Neue an den neuen Satire-Formaten: Sie ersetzen andere Medien

Es geht etwas vor mit der Satire. Artikuliert wird "es" von den einschlägigen journalistischen Kritikern. Dabei schwanken die Begrifflichkeiten für dieses einheitlich empfundene, aber noch nicht treffend gelabelte „Neue“:  „innovative Formate“, „investigatives Kabarett“, „kalkulierter Bruch mit den Konventionen“. Werkstücke dieser Innovation sind vor allem die Sendungen der ZDF-Kabarettserie Die Anstalt seit der Übernahme durch Claus von Wagner und Max Uthoff. In Amerika machte gerade erst der Satiriker und Late-Night-Talker John Oliver Furore. Er hatte am Beispiel Penisfotos ein Interview mit Edward Snowden geführt und mit dieser anderen Art der Wissensvermittlung und Relevanzdemonstration Erfolg gefeiert. Auch die dreiteilige „satirische Doku“ von und mit Christian Springer und Christoph Süß Der Schein des Geldes (vgl. SaSe10) gehört in diese Rubrik, von deren Drive offensichtlich nun auch der Ex-Journalist Tilo Jung profitieren möchte (vgl. SaSe11). 

Dieser Artikel enthält Nacktfotos
Da kommt die Analyse von Constantin Seibt im Schweizer Tagesanzeiger gerade recht. Unter der originellen Überschrift Dieser Artikel enthält Nacktfotos forscht er den aktuellen Entwicklungen nach und stellt fest, dass sich Satire vom „Resteverwerter zur vitalsten Form von Journalismus entwickelt“ habe. Von der Analyse umfasst sind sowohl Beispiele aus Amerika wie auch die Erfolgsstory des (deutschen) Satire-Blogs Postillon. Und Seibt kommt dem ominösen Neuen auf die Spur:

Das wirklich Neue ist, dass die satirischen Medien die seriösen nicht nur ergänzen und parodieren; sie beginnen sie zu ersetzen. Nicht zuletzt deshalb, weil sie deren Aufgaben übernehmen, die diese kaum mehr machen: das Wälzen von Aktenbergen. Und das Ausmisten von Unfug.
(Tagesanzeiger 10.04.15: Dieser Artikel enthält Nacktfotos Analyse: Die Parodien der Nachrichten fangen an, die Nachrichten zu ersetzen)

Dabei arbeite diese neue Satire mit drastischen Mitteln. Seibt zitiert das Penisfotos-Beispiel von John Oliver. Neben den drastischen Mitteln sind es aber vor allem die erfolgende Wissensvermittlung sowie die hohe politische Relevanz der satirisch bearbeiteten Themen, welche das Erfolgsrezept ausmachen:

Das Resultat [von John Olivers Snowden-Interview – SaSe-Anmerkg.] war eine ziemlich informative Sendung: quasi eine «Sendung mit der Maus» für Erwachsene, mit dem Unterschied, dass die Maus den Schwanz vorn trug.
Und es war eine Sendung mit einer grossen, politischen Frage: ob die Überwachungsgesetze am 1. Juni verlängert werden. Eine Frage, die sich – wie Oliver in Ausschnitten zeigte – die grossen Fernsehsender nicht mehr stellten. Dort wurde etwa eine Debatte zur Überwachung abgebrochen, um direkt zum Prozess gegen den Popstar Justin Bieber zu schalten.
Relevanz ist die böse Antwort der Komiker auf ein Mediensystem, das mit mehr Tempo und weniger Geld zunehmend Unfug produziert. Nicht nur in den USA. In der Schweiz drehte sich 2014 die wichtigste politische Story mit über 1700 Artikeln um die Nacktfotos eines Nationalrats; in Deutschland debattierte die Presse statt über die Sparpolitik der Eurozone über den Mittelfinger des griechischen Finanzministers. Die Wachhunde der Demokratie jagen Würmer.
(ibid.)

Den Wettbewerbsvorsprung der Satire durch Relevanz und Beschäftigung mit wichtigen Themen illustriert Seibt auch am Fall Jan Böhmermann und der Stinkefinger-Affäre (vg. Auch TS16/15).

Seibt bilanziert seine Analyse mit der Konformität von satirischem Angebot und Publikumsakzeptanz. Denn dieses wisse, was die Nachrichten (i. e. Medien) vergessen hätten: dass Vergnügen und Vernunft, Witz und Wahrheit eins seien.

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