SaSe36: Rezension Malte Welding „Sekundenschafe“: Aufzucht, Haltung, Pflege und Kaputtlachen

Täusche ich mich oder gucken Sie belämmert? Was hat Schafzucht mit diesem Blog zu tun? Wenn diese Frage Ihren Geist verwirrt, gehören Sie a) noch nicht zur wachsenden Fan-Gruppe der Sekundenschäfer, b) kennen die dazugehörige radio1-Sendung des rbb nicht und c) haben ein wirklich lustiges Buch noch nicht gelesen.
 


Was Ihnen allerdings beim Lesen der Überschrift passiert ist, das war schon ein Schaf. Ein Sekundenschaf. Eine Augenblicksidiotie. Gemäß den wissenschaftlich analysierten Lesemechanismen haben Sie vielleicht aus dem Wort „Sekundenschaf“ das Ihnen und Ihrem Zerebrum bekanntere „SekundenschLaf“  rekonstruiert? Die Sprachwissenschaft kann das Phänomen erklären, denn wir lesen nicht Buchstabe für Buchstabe. Für jedermann verständlich erklärt wird der „Trick mit dem Buchstabensalat“ hier


Das Zuchtbuch der Sekundenschafe
Der Berliner Drehbuchautor, Essayist und Kolumnist Malte Welding hat im Juli 2015 das (erste?) Zuchtbuch der Sekundenschafe bei Rowohlt herausgegeben: Sekundenschafe: Dumm für einen Augenblick. Welding publiziert (sonst) auch noch bei der Berliner Zeitung, FAZ und taz. Er verfügt über einen Wikipedia-Eintrag und wurde mehrfach für den Deutschen Reporterpreis nominiert.  Thematisch bewegt er sich gern in den Bereichen Familie und Kinder, obwohl er sehr genau weiß, dass Männer und Frauen nicht zusammenpassen, auch nicht in der Mitte.
 

 

Weldings Beschaffungskriminalität
Wenn die Halter von Sekundenschafen nicht so erschütternd ehrlich und kommunikativ wären, Malte Welding hätte kaum so viele Exemplare zusammentreiben können. Denn hinter dem Buch steht zum einen die Radiosendung „Die schöne Woche“ bei Radio1 rbb, in der immer freitags besonders gelungene Exemplare vorgestellt werden (Bleistift in Mediathek). Der Rowohlt-Verlag unterhält für das Projekt inzwischen eine eigene Webseite, die eine explizite Wesensbeschreibung des putzigen Alltagsbegleiters bereitstellt und bisher unbekannten Tierhaltern die Möglichkeit gibt, ihren Liebling „einzureichen“.
Natürlich hat der ringelwollige Geselle einen eigenen Hashtag bei Twitter: #sekundenschaf. Fans und Freunde treffen sich auf Facebook, um hier Sekundenschaf-Fachfragen zu diskutieren.


Phäno- und Genotyp des Sekundenschafs
Der Untertitel des Buchs Sekundenschaf von Malte Welding skizziert das Wesen unseres Untersuchungsgegenstands unaufgeregt und bestechend direkt: „dumm für einen Augenblick“. Näheres erklärt das Vorwort, das Sekundenschafe zunächst vom schlimmsten Vorwurf befreit. Das Phänomen sei kein Fall mangelnder Bildung. Eher ist es eine mentale Hinterfotzigkeit, der Augenblick, in dem „mein Gehirn mich hatte auflaufen lassen“. Es ist eine „Augenblicksdummheit“, welche der Halter in der Regel auch unmittelbar danach selbst erkennt. Es ist kein Blackout, erfährt der Leser weiter, kein Vergessen, kein Unfall. Der Autor meint auch: „keine Fehlleistung“, was die bockige Rezensentin jedoch bezweifeln möchte.
Welding  lässt sich auf weitere hirnphysiologische Spekulationen und die Ursachenforschung gar nicht erst ein. Das lässt sein Job als verantwortungsbewusster Hirte auch nicht zu. Er muss liefern. Er liefert: eng getaktetes Lachen.
 


Wer das Sekundenschaf aufmerksam liest, wie eine Rezensentin es getan zu haben zu behaupten gut beraten ist (stilistisch fragwürdiger Verbfilz!), entwickelt möglicherweise seine eigene Theorie zur Herkunft der Art. Denn die dokumentierten Fälle und ihre hilfreiche Systematik im Buch (z. B. die Kategorisierung der Schafe nach Größe, ihrem Erscheinungsort, ihrem Konnex zu den großen Fragen des Lebens und zu Troja) zeigen auf: Viele ihrer resultieren offensichtlich aus der Überforderung des Menschen in einer hochtechnisierten Zeit, in der er mehrere komplexe Systeme beherrschen und teilweise simultan bedienen muss. Eingehendere Erklärungen zu liefern, das sei den zuständigen Fachwissenschaften als Aufgabe in die Raufe geschüttet!

Für den Leser steht neben dem Lachgenuss an erster Stelle die durch die Fülle der 800 dokumentierten Fälle blökende Botschaft: Hurra, es gibt Menschen, die sind noch blöder als ich!


Vollgepferchtes Lachprotokoll
Wie viele Bücher versprechen uns das Kostbare? Lachen! Die meisten davon können ihre leichtfertige Ankündigung nicht einhalten. So lese ich derzeit im Tagespensum <Satire / ohne publizistische Verwertungsabsicht> Michael Mittermeiers „Achtung Baby“ und habe bis Seite 86 noch nicht ein einziges Mal gelacht. Kunststück: Die Komik Mittermeiers ist an seine Person und seine Performance gebunden und eignet sich nicht für die Buchpräsentation.

Sekundenschafe aber sind völlig autonome Wesen. Und das Ganzkörper-Amüsement ist garantiert. Das Lachprotokoll der Rezensentin weist alle paar Seiten Treffer aus; anfangs mit einem, im Verlaufe der Lektüre mit albern vielen Ausrufezeichen. Es hier abzuschreiben, bedeutet die Zahlen von 11 bis 221 hintereinander zu setzen. Das macht ja auch keinen Sinn!

Wenn man das Lachen fragt, woher es kommt, gibt es Bekanntes an:  Wiedererkennung. Beispiel:

Ich habe ein Plakat für den Film Super 8 gesehen und meinen Kumpel gefragt, warum ich on Super 1-7 noch nie etwas gehört habe.
(S. 31)

Häufig wohnen Sekundenschafe auch in den verkappten Erfindern dieser Welt:

Ich habe mir eine phantastische Methode ausgedacht, Autos weiterzuentwickeln. Man könnte sie einfach auf etwas stellen, das sie leitet. Sodass sie nicht vom Weg abkommen, man wählt sein Ziel und los! Ich habe Züge erfunden!
(S. 52)


 

"Viele Leute campen doch im Wald oder sonst wo im Freien. Das ist ja schon ganz cool. Aber Städte sind doch eigentlich geiler. Warum campen Leute nicht in den Städte?“ – „Du meinst: wie Obdachlose?“
(S. 53)

Ich dachte mir mal, wie cool und praktisch es doch wäre, wenn man von der Realität auch Screenshots machen könnte. Dann fiel mein Blick auf meine Kamera.
(S. 49)

Die Überforderung der simultanen Bedienung mehrerer Systeme dokumentieren folgende Schafe:

Ich laufe mit Kopfhörern durch die Stadt, als eine Bekannte meinen Namen ruft. Um sie besser verstehen zu können, nehme ich erst einmal meine Brille ab.
(S. 70)

Ich sitze Montagmorgen im Büro und habe einige Telefonate zu erledigen. Das ständige Wechseln zwischen Tastatur, Telefon und Rechenmaschine bekomme ich gar nicht richtig mit. Irgendwann frage ich meine Kollegin, ob die Leitung tot ist. Der Tipp von ihr: Ich solle doch mal versuchen, die Telefonnummer NICHT in die Rechenmaschine zu hacken, sondern ins Telefon.
(S. 94)

Nicht jedes Schaf animiert gleich zur Lachexplosion. Einige sind einfach nur nett, sofern sich der Leser mit der mangelnden Themenqualifikation des Mutterschafes identifizieren kann:

Nach dem Halbfinale gegen Brasilien fragt meine Freundin: „Und jetzt kommt das Viertelfinale?“
(S. 118)

„Wie alt sind Sie?“ – „23.“ – „Haben Sie Geschwister?“ – „Ja, einen Zwillingsbruder.“ – „Und wie alt ist der?“
(S. 140)

Ich hole mein Kind von der Kita ab und gehe mit ihm nach Hause. Auf der anderen Straßenseite sehe ich meine Frau und rufe laut: „Hallo, Mama!“
(S. 132)

Ich bin am Flughafen und muss aufs Klo. An der Tür mit der Aufschrift „WC Men“ gehe ich vorbei, weil ich die deutschsprachige Toilette suche.
(S. 157)

Manche Schafe verschaffen zuerst dem Erleichterung, der zu der referierten Zielgruppe gehört. Hier am Beispiel Brillenträger:

Kontaktlinsen einsetzen. Brille aufsetzen, wundern.
(S. 197)

Nur wenige Schafe verkeilen sich auch im Zutreibgitter; es sind die kapitalen Böcke, die dem Leser das Lachen in den Hals zurückstopfen:

Ich habe ein Bild von Anton Hofreiter in der Zeitung gesehen, daneben die Überschrift „Neuer Fraktionsvorsitzender der Grünen“ und gedacht: „Ach, ist Anders Breivik jetzt bei den Grünen?“
(S. 207)

Als die Nachricht  von dem abgeschossenen malayischen  Flugzeug kam, wunderte ich mich, wie das so lange hatte fliegen können. (Einige Monate vorher war ein malayisches Flugzeug verschwunden, und mein Gehirn bekam es nicht zusammen, dass Malaysia über mehr als ein Flugzeug verfügt.)
(S. 209)

Die Leistung des Autors bzw. Herausgebers der 800 Köpfe starken Herde liegt neben der Sammlung und Systematisierung der Schafe auch in der mutmaßlichen sprachlichen Überarbeitung einzelner Exemplare. Denn selbst wenn der Sachverhalt komplex ist, ist er mit effizienten sprachlichen Mitteln ohne jeden Schnickschnack oder ausschweifender Rhetorik auf den Punkt gebracht, so dass der Leser die Pointe sofort an den Hammelbeinen zu fassen kriegt:

Eine Zeitlang musste ich mit Ohrstöpseln und Schlafmaske schlafen, weil es zu laut und zu hell war. Eines Abends habe ich vor dem Einschlafen noch Musik über Kopfhörer gehört. Es war aber schon spät, und ich wollte nur noch das letzte Lied zu Ende hören. Um Zeit zu sparen, setze ich wenigstens mal meine Brille ab – und die Schlafmaske auf. Nächster Gedanke: Mach doch auch die Ohrstöpsel rein, das dauert immer so lange.
(S. 202)

 

Schöner Wohnen mit Sekundenschaf
Okay, das sollte nicht wirklich ein Kaufkriterium sein, aber: Der ansprechende goldfarbene Einband des Buches ist schon ein Hingucker. An strategisch ausgeklügeltem Ort innerhalb der Wohnlandschaft wie  nachlässig platziert, provoziert der Eyecatcher zuverlässige Besucher-Nachfragen. „Was haste denn da wieder für ein tolles Buch?“. Ein goldfarbenes Buch muss toll sein. Dieses goldfarbene Buch ist toll.

SaSe spricht die uneingeschränkte Leseempfehlung aus:

Malte Welding:
Sekundenschafe – Dumm für einen Augenblick
Hamburg, Juli 2015
Rowohlt Taschenbuch Verlag € 9,99


Dem Rowohlt-Verlag danke ich für die Zusendung eines Rezensionsexemplars.

Bildnachweis:
Bild Nr. 1: Pixelio / Erwin Lorenzen + Bild Nr. 2: Pixelio / Dietrich Schneider + Bild Nr. 3: Pixelio / angieconscious
+ Bild Nr. 4: Pixelio / Radka Schöne + Bild Nr. 5: Pixelio / Karl-Heinz Laube

 

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