SaSe62: Rezension Martin Amis „Interessengebiet“: Die steilen Erkenntniszentimeter zum Holocaust

Wird es nicht Zeit, auch einmal etwas „Wohlgesinntes“ über Nationalsozialismus und Holocaust zu schreiben? Vielleicht auch im Sinne der zeitgenössischen Linken? „Nimm das“ (S. 251): Er, der Nationalsozialismus, war – zumindest – nicht neoliberal; keiner von beiden und vice versa! Wie dort mit „Humankapital“ herum geaast wurde, mein lieber Szmul! Ein volkswirtschaftliches Zum-Schornstein-hinaus, dass es der INSM und dem BDI heutzutage grausen würde.

Das – Verwertung/Ausbeutung statt Vernichtung – ist nur ein (1) Thema. In Interessengebiet, dem satirischen Roman des britischen Schriftstellers Martin Amis mit den ganz steilen Erkenntniszentimetern zum Thema Holocaust. Amis mit der Tendenz zur grotesken Karikatur. Der, so munitioniert mich Wikipedia, von der New York Times als „Meister der neuen Widerwärtigkeit“ bezeichnet wurde. Das klingt nach „Ricola“. Aber er hat sie nicht erfunden, die Widerwärtigkeit. Für den “Interessengebiet“-(Aus-)Fall. Stattdessen wickelt er die mit Süffisanz ausgewählten Fakten in eine Sprache und Bildlichkeit, die dem historisch belegtem Exzess über einen bisher unbegangenen Weg nahekommt. Oder es versucht.

SaSe62RezensionMartinAmisInteressengebiet


Wie man Leichen platzsparend stapelt
Ort des Geschehens ist ein „Kat-Zet“. Von „Handlung“ im klassischen Sinne kann keine Rede sein. Vielmehr pflastert der Autor den Weg mit einer kurz getakteten Reihung von Szenen, die jenseits aller humanen Norm liegen. Den argumentativen Bezugsrahmen des nahezu wollüstigen Zynismus der Protagonisten bildet der Kriegsverlauf. Berichtet wird abwechselnd aus den drei Perspektiven des SS-Obersturmbannführers Angelus Thomsen (gerufen: Golo), des Lagerkommandanten Paul Doll und des Kat-Zet-Häftlings und „Sonder“ Szmul (Zachariasz Szmulek).

Identifikationspotenzial und Andockstelle für die zerfetzte Gefühlslage des Lesers bietet allein Szmul, der zum Sonderkommando gehörig die letzten Falten des massenmordenden Exzesses glattstreicht und sichtbar macht. Themen sind die Selektion an der Rampe (ein Schwerpunkt), der tägliche Sadismus der Aufseher und das Leichenmanagement mit seinen vielfältigen technischen Folgeproblemen (Kadaverausbeutung, Leichenstapelung, Massengräber, Gärung, Exhumierung, Leichenzählung. Verbrennung, Asche-Entsorgung etc.).

Parallel dazu und zur Steigerung der Groteske gärt eine Liebesgeschichte zwischen Golo und der Ehefrau des Lagerkommandanten, Hannah Doll, die ihre Erfüllung nicht findet.

Der Roman reicht über die Befreiung der Konzentrationslager und das Kriegsende hinaus. Ein Nebenerzählstrang und Spannungspumpe ist das lange Zeit unklare Schicksal des Kommunisten und früheren Geliebten von Hannah: Dieter Krüger.


Was bedeutet der kryptische Titel?
Den ersten „Stolperstein“ auf dem Weg zu diesem weit herausragenden Stück Literatur setzt der Buchtitel, im Original „Zone of interest“. Der verwirrt und scheint das Thema zu verhüllen. In den verschiedenen bisher schon vorliegenden Rezensionen werden die eigenartigsten Interpretationen dafür gegeben (siehe Liste der Buchbesprechungen hier). Ich halte mich an Amis selbst und seine Protagonisten. Doll und Thomsen verwenden den Begriff synonym zu „KZ“ (z. B. S. 15, 51).  „Interessengebiet“ bezeichnet also zunächst den Ort:  das/ein/dieses/jedes Konzentrationslager.

Die ergiebigste Definition liefert Thomsen nach Kriegsende und aus der Retrospektive:

Unter dem Nationalsozialismus sah man in den Spiegel und erblickte seine Seele. Man durchschaute sich. Dies galt, par excellence und a fortiori in erster Linie für die Opfer – oder für die, die länger als eine Stunde lebten und die Zeit hatten, sich ihrem Spiegelbild zu stellen. Es galt aber auch für alle anderen, die Übeltäter, die Kollaborateure, die Zeugen, die Verschwörer, die ausgemachten Märtyrer (die Rote Kapelle, die Weiße Rose, die Männer und Frauen des 20. Juli) und auch für kleinere Widerständler wie mich und Hannah Doll. Wir alle erkannten (oder gaben hilflos zu erkennen), wer wir waren.
Wer man wirklich war. DAS war das Interessengebiet.
(Martin Amis: Interessengebiet, S. 390; Hervorhebg. SaSe)

Das beantwortet alle Fragen und definiert den Buchtitel als Bezeichnung der Quintessenz des unendlich vielgestaltigen Seelen“bilds“ aller, die in dieser Zeit leben (mussten). Dabei bleibt dieses Bild immer individuell und damit für das „Ganze“ ohne Aussage und ohne Erklärung. Es gibt keine Antwort auf die Frage nach dem Warum des Ungeheuer-lichen Tuns. Es darf diese Antwort gar nicht geben, wie weiter unten zu erklären sein wird. Und erst der Wegfall dieses Erklärungszwanges macht Bücher wie Interessengebiet überhaupt möglich.


Wie bei „Wohlgesinnten“ und nur für Hartgesottene

Die Ansprüche an den Lese-Wanderer sind ähnlich riesengroß bis überfordernd wie bei Jonathan Littells Die Wohlgesinnten. Mit dem teilt Amis Vieles; auch das eine Thema, bei dem alle neoliberalen Grundsätze zur Verwertung von Humanmaterial ausgepeitscht, erschossen und durch den Schornstein gejagt werden. Und dann hat man die Bescherung: brauner Schnee und eine summende-grummelnde „Frühlingswiese“ über den Massengräbern der fermentierenden Leichen „Stücke“. Deren Anzahl muss erst nachträglich – postmortal und kompostierungssynchron – und mit einem ausgeklügelten System vom „Sonder“ Szmul errechnet werden: 107.000 (S. 244). Übrigens kann man sich dabei nicht an der Anzahl der exhumierten Schädel orientieren. Muss man wissen.

Die von Amis perfekt inszenierte und mit Liebe zum technischen Qual- und Vernichtungsdetail ausgestattete Ganzheitlichkeit wird abgerundet von der Beschreibung des (bisher?) einmaligen Geruchs, der auch noch in 50 Kilometern Entfernung vom „Interessengebiet“ den Appetit verdirbt (S. 160). Herrenmenschen-Odeur. Die „Satire“ in Interessengebiet ist gelegentlich ein bisschen wie Feenstaub – flüchtig und schon aus thematischen und sachlichen Gründen selten sicher nachweisbar zu erkennen beziehungsweise von der grotesken Realität schwer zu scheiden. Hier eine Prise: „Wenn das, was wir tun, gut ist, warum riecht es dann so durch und durch schlecht?“ (S. 306), fragt sich Lager-Kommandant Paul Doll. Den Schornsteinen entsteigt nicht nur, sondern auch das Olfaktorische als moralischer Wegweiser.

Möglicherweise hätte Hannah Arendt Amis zugestimmt und dieses Bild als Metapher für die Banalität des Bösen und die so simplen Hinweise auf deren exklusive Qualität akzeptiert? Dass Amis Arendts provokativen Begriff bewusst auf die Spitze treibe, darauf hatte Gina Thomas bei der Bestimmung des Grenzbereichs der Literatur hingewiesen, den Amis in seinem Gesamtwerk sowie in Interessengebiet absurfe.


Wo neues Leben Tod verheißt
Braun, Gestank und Verwesungsphilharmonie bieten das ideale Setting für … Liebe! An einem Ort, an dem es keine Liebe gibt. Sagt selbst Doll an nämlichem, schon stramm dem Exzessende entgegen marschierenden Erkenntnisort im Kontext seiner moralischen Reflexionen über die Güte der Tat an sich:

Warum überkommt uns nachts an der Rampe das unabweisbare Bedürfnis, uns so viehisch zu betrinken? Warum haben wir die Wiese zum Brodeln und Blubbern gebracht? Die Fliegen, fett wie Brombeeren, das Ungeziefer, die Krankheiten, ach, scheußlich, schmierig – warum? Warum bringt jede Ratte im Tausch 5 Brotrationen ein? Warum scheint es den Wahnsinnigen, und nur den Wahnsinnigen, hier zu gefallen? Warum verheißen Empfängnis und Schwangerschaft hier nicht neues Leben, sondern sicheren Tod für Frau und Kind? Warum machen wir den Schnee braun? Warum tun wir das? Dass der Schnee wie die Scheiße von Engeln aussieht. Warum machen wir das?“
(Martin Amis: Interessengebiet, S. 307)

Keine Sorge. Diese Fragen sind rhetorischer Natur und nur „Nachtlogik“. Gleich danach wird Doll wieder zum Hüter des Lebens, wenn er der von ihm sexuell missbrauchten Interessengebiet-Insassin Alisz, übrigens die Witwe des – vormals daselbst als Aufseher tätigen -SS-Unteroffiziers Orbart Seisser, eine Abtreibung verpasst. Wegen der für ihn lebensgefährlichen Rassenschande.

Bei Alisz war es ein bisschen dumm gelaufen. Nachdem es ihren Gatten bei der Pflichterfüllung, zwei „Gäste“ am Suizid im Elektrozaun zu hindern (S. 73), durch den Rückstoß seiner Pistole selbst in diesem verbruzzelt hatte, stellte sich leider eine Sinti-Großmutter in ihrer Ahnenreihe heraus.

Aber da ist noch viel mehr „Liebe“ im Interessengebiet: die des kobaltblauäugigen SS-Verbindungsoffiziers Angelus Thomsen zur Kommandantengattin Hannah Doll. Diese Liebe häkelt den einzigen nicht aus Blut bestehenden roten Faden im Plot. Ihren antithetischen Charakter zur Vernichtung behauptet diese singuläre emotionale (Er)Regung durch ihre Unerfülltheit.

Amis‘ Angelus Golo Thomsen ist – mit Abstrichen – das Pendant zu Littells Dr. jur. Maximilian Aue und benötigt schon aufgrund seiner von der Liebe zu Hannah kaum behinderten Promiskuität ein Körperprofil, bei dem pornografische Angaben zur Mitte nicht fehlen dürfen:

Ich war einen Meter neunzig groß. Mein Haar frostig weiß. Die abschüssige flämische Nase, der verächtlich gefaltete Mund, das stattlich aggressive Kinn, die rechtwinklige Kieferpartie, wie angenietet unter den zierlichen Schnörkel meiner Ohren. Meine Schultern waren flach und breit, meine Brust ein Brett, schlank meine Taille; der expansible Penis, klassisch kompakt in Ruhephasen (mit ausgeprägter Vorhaut), die Schenkel massiv wie Schiffsmasten, die Kniescheiben kantig, die Waden michelangelesk, die Füße kaum weniger weich und wohlgeformt als die langen Tentakelklingen der Hände. Komplettiert wurde diese Palette willkommener Reize vom Kobaltblau meiner arktischen Augen.
(ibid., S. 24; Hervorhebg. von SaSe)

Für die „michelangelesken Waden“ möchten andere Sprachkreative (i. e. ich) Amis aus neidgrünen Gründen am liebsten hauen! Und so geht das bei ihm in einem fort.


„Interessengebiet“ – so what?
Der Ort der Handlung ist „Wie-Auschwitz“, aber das „Interessengebiet“ heißt nicht Auschwitz. Martin Bormann ist Martin Bormann, Goebbels führt den Beinamen „Krüppel“ (S. 290), Speer wird namentlich aufgerufen, Rosenberg als „Masturbator“ geführt (S. 291). Aber ER, er wird namentlich nicht genannt. Alternativ: „der Chef“, zynischer noch: „der Erlöser“.

Aussagekräftiger als Namen ist die Technik. Der „Held“ des Romans, SS-Obersturmbannführer Angelus Thomsen, unterhält sich mit seinem Freund Boris Eltz. Der beschreibt die Stapeltechnik für die „Stücke“ oder „Gäste“ nach dem „Ende der Behandlung“:

„Das Ende einer Behandlung. Du solltest mal sehen, wie die aufgestapelt werden.“
„Leiser, Boris.“
„Aufrecht gestapelt. Sardinenpackung, nur senkrecht. Senkrechte Sardinen. Stehen sich gegenseitig auf den Füßen. Ineinander verkeilt. Die Säuglinge und Kleinkinder in Schulterhöhe reingestopft.“
(ibid. S. 137)

Das erwartet den Leser von Interessengebiet: Exzesse! Damit sollte er rechnen: wortgewaltige exzesshafte Beschreibungen des Exzesses. Gefühlte sechs Millionen mal.

Das führt zu zwei weiteren Fragen: Was hat das mit „Unterhaltung“ zu tun? Und: Was bringt „das“ – diese grenzüberspielende literarische Form – für das Thema? Beide Fragen wurden von der bisherigen Literaturkritik zu dem anspruchsvollen Roman aufgegriffen. (Erst wollte ich hier das Verb „behandeln“ verwenden, aber es hat auf einmal Widerhaken. Auch eine Wirkung von Interessengebiet!)

Inzwischen muss man die einzelnen Puzzle-Teile aus den vorliegenden Rezensionen und Interviews mit Amis nur noch zusammensetzen: Jürgen Kaube hat sich in seiner Rezension für die FAZ ausführlich mit Amis‘ Lizenz zum Exzess beschäftigt und dieses Charakteristikum des Romans mit dem Unterhaltungsanspruch von Literatur verknüpft. Das Buch werde von drei Motivgruppen getragen – 1. Phrasen des Exzesses, 2. „Fabrik des Mordes“ (Technik), 3. Auswirkungen auf die Täter. Für die übrigens sei der Personenbegriff – innerhalb der Romanlogik – eine fragliche Kategorie. Kaube weiter:

Das führt zurück zur Frage, was Unterhaltung ist, wenn ein solcher Stoff gewählt wird. Amis ist virtuos im Aufrufen von kurzen Szenen, Absurditäten, schrecklichen Momenten, ekelhaften Sequenzen. Es scheint mitunter, als habe er den ganzen Variantenreichtum der Niedertracht wie der Vergeblichkeit, ihr irgendeine Erfahrung abzugewinnen, im Blick. „Das also auch noch“, denkt man auf jeder Seite. Dagegen steht das Bedürfnis, mehr an die Hand zu bekommen. Das KZ, schreibt der Häftling [i. e. „Sonder“ Szmul – Anmerkung von SaSe], sei ein Spiegel, in dem jeder seine Seele sehe, aber niemand könne hineinschauen, ohne den Blick abzuwenden. Mit dem Buch von Martin Amis kann es einem genau umgekehrt gehen. Man schaut hinein, liest es, liest es womöglich gebannt durch den Schrecken und jene kalte Bosheit, die einem nicht viel erspart, liest es noch einmal, und hat immer noch nichts oder jedenfalls nicht die Seele gesehen.
(FAZ 01.09.2015 Jürgen Kaube: Martin Amis‘ Holocaust-Roman: Lizenz zum Exzess)

In meinem Verständnis dieser Kritik sieht Kaube einen Anspruch unerfüllt, den weder das Thema noch Amis stellt. Wenn der Leser beim Blick in den KZ-Spiegel die Seele nicht sehen kann, folgt Amis damit Primo Levi. Das erklärt er in einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung.

Um die Aussage dort aber korrekt einordnen zu können, ist zuvor eine weitere Information hilfreich, die sich in einer FAZ-Rezension anlässlich der Ersterscheinung des Romans in Großbritannien 2014 findet:

Amis beschreibt den Befreiungsmoment, den er bei der Suche nach einem neuen Zugang zum Thema erfahren habe, als er den Satz von Primo Levi las, dass man gar nicht versuchen dürfe, den Holocaust zu verstehen, weil verstehen beinahe rechtfertigen heiße. Danach habe er sich im Stuhl zurückgelehnt, erzählt der Autor. Mit dieser Einsicht habe sich der Druck, eine Erklärung für das Unverständliche zu finden, verflüchtigt. Ihm sei klargeworden, „dass ich mich hineinwagen konnte“.
(Gina Thomas in FAZ 03.09.2014: Martin Amis’ Holocaust-Roman: Im Grenzbereich der Literatur)

Von diesem „Befreiungsmoment“ aus kommt der Suchende über das oben genannte NZZ-Interview ein Jahr später bündig zur Antwort auf die Frage, was Amis‘ Roman zum Diskurs über den Holocaust beitrage:

Was den Holocaust anbelangt, so werden wir ihn nie begreifen, weil er so eng mit dem Wahnsinn verknüpft ist, aber wenn mein Roman auch nur den Bruchteil eines Millimeters dazu beiträgt, dass sich diese Art von Katastrophe nie wiederholen wird, hat er einen Beitrag geleistet. Alle, die über den Holocaust schreiben, ob Historiker, Philosophen, Dichter oder Romanciers, gleichen dem Team, das nach einem Flugzeugabsturz ausschwärmt, und ihr Bericht dient nicht nur der Erklärung, sondern immer auch dem Ziel, zu verhindern, dass die gleiche Verkettung von Umständen abermals zur Katastrophe führt. Diese Arbeit ist meines Erachtens eine heilige Pflicht.
(NZZ 03.09.2015: Martin Amis spricht über seinen KZ-Roman: Ein Blick in die Abgründe der eigenen Seele; Hervorhebg. SaSe)

Interessengebiet ist also nur eine weitere, sicherlich ungastlich anspruchsvolle, in Inventarisierung und Sprache den Leser bis an seine Grenzen fordernde Annäherung. Eine. Von vielen möglichen. Und (auch) diese Annäherung ist so legitim wie hilfreich. Wenn Amis von „Bruchteil von Millimetern“ spricht, drückt die Rezensentin ihre Faszination und Hochachtung für diesen Roman – und mithin die beipackzettelbeschwerte Leseempfehlung – mit dem Sprung in die nächsthöhere Maßeinheit aus: Zentimeter!


Die adolfige Hybris von Usurpator Serdar Somuncu
EINE Annäherung – das ist genau der Punkt. Und der wird – plastischer geht es nicht – durch ein aktuelles Zitat des Kabarettisten illuminiert, der sich in seiner selbstzentrierten Megalomanie und aufgrund seiner 1.400 (+/-) veranstalteten Lesungen aus Mein Kampf die finale Deutungshoheit zum Thema anmisst und anmaßt: Serdar Somuncu. Der hatte am 5. November 2015 Deutschlandfunk ein Interview gegeben unter der Überschrift In Deutschland funktioniert noch heute ein faschistoides System.

Zum Ende des Gesprächs fragt ihn der Moderator, ob der „derzeitige Hitler-Boom“ (Timur Vermes Bestseller-Roman Er ist wieder da und die derzeit die Kinocharts dominierende Buchverfilmung werden ausdrücklich genannt) der souveräne Umgang mit dem Thema sei, den sich Somuncu wünsche (ab ca. 7:21 im Interview). Merke auf: Der Umgang muss/soll „souverän“ sein! MUSS.

Diese Frage beantwortet der oberste Priester mit einem klaren „Nein!“. Es handele sich seiner Meinung nach um eine „sträflich falsche Stilisierung“. Das Lachen über Hitler könne ihn ja nicht als Witzfigur entlarven, sondern es sei ein Mittel zum Zweck, um zum Nachdenken über Hitler zu gelangen. Das hätten andere (als Timur Vermes und Regisseur David Wnendt) früher schon „wesentlich klüger“ gemacht. Er erinnere an Ernst Lubitsch und „viele andere Vorlagen“.

Es sei in letzter Zeit inflationär geworden, das (i. e. die Annäherung an das Thema) auf einer sehr oberflächlichen Ebene zu versuchen. Er habe den Film gesehen und sei erschrocken gewesen zu sehen, dass wohl selbst die Macher des Films am Ende erkannt hätten, dass es nicht ausreicht, Hitler als eine Identifikationsfigur für jemanden zu präsentieren, der endlich einmal die Wahrheit sagt.
(Spätestens an dieser Stelle des Interviews kann man auch bezweifeln, ob Somuncu den Film gesehen und das Buch verstanden hat.)

Allein die Sprache, die Somuncu hier führt, schrillt warnend in den Ohren: „muss“, „sträflich falsch“, „Zweck“, „Nachdenken“, „oberflächlich“.

Somuncu moralapostelt im besagten Interview dann noch – von der Begeisterung an der eigenen Wichtigkeit nachgerade berauscht -munter weiter und enthüllt penetrant Peinliches über seine Selbstwahrnehmung: Er sei jemand, der mit der Rezeptionsgeschichte von Mein Kampf eng verbunden sei.
Wie kommt er denn auf das schmale Narzissten-Brett? Seine Lesungen waren auch nur ein Neuaufguss zu dem, was Helmut Qualtinger schon 1973 vorgeturnt hatte.

Wer sich mit dem Thema Hitler, Nationalsozialismus und Holocaust künstlerisch auseinandersetzen möchte, der muss, so tönt es aus dem Deutschlandfunk, Somuncu wohl erst seinen Ariernachweis der beabsichtigten Tiefe vorlegen, der garantiert, dass das Thema angemessen seriös, dezidiert, differenziert und mit dem eisernen Willen zur ernsthaften Auseinandersetzung angegangen wird. Sonst: gefährlich! Sagt der mit der Rezeptionsgeschichte von Mein Kampf „eng Verbunden“e!

Somuncu urteilt solcherart leichtfertig und arrogant über Timur Vermes & Co. Er nimmt keinen Bezug zu Amis und Interessengebiet. Aber nichts konterkariert meiner Meinung nach Amis‘ Absicht und Erfolg mit diesem Roman treffender als dieses größenwahnsinnig Verdikt eines Kabarettisten, der meint, die Standards für die Themenbearbeitung festlegen zu können. Buch und Film Er ist wieder da erreichen zumindest in Teilen ein Publikum, das zur Rezeption von Interessengebiet mutmaßlich weder willens noch in der Lage ist. Timur Vermes und David Wnendt bieten Millimeter für die einen, für einen, nicht den Weg zum Thema.

Das Verwerflichste, was man – nach schierer Leugnung – der deutschen Geschichte und ihren Besonderheiten im Kontext der Interessengebiete antun kann, das ist die Errichtung moralisch definierte Hürden rund um die künstlerische/literarische Auseinandersetzung damit.

Martin Amis hat in genau diese mit seinem frappanten Ansatz Interessengebiet ein angenehm durchgängiges Loch gesprengt. Und der Titel von Somuncus neuem Buch Der Adolf in mir verrät wohl doch mehr und anderes über dessen Autor als beabsichtigt! (Ganz abgesehen von dem Enthüllungspotenzial selbstreferentieller Buchtitel à la „MEIN Kampf“ und „… in MIR“.)


Rezensenten-Service bei Klein & Aber
Ich danke dem Verlag Klein & Aber für die Übersendung eines Rezensionsexemplars. Dessen Besonderheiten habe (zumindest) ich so noch nie gesehen: Der Verlag gibt spezielle „Lese-Exemplare (inklusives eines kreisrunden Aufdrucks auf dem Cover) für Rezensenten heraus, die einen praktischen Service bieten: Zum einen verweisen sie noch einmal auf die Sperrfrist (die lag auf dem 01.09.2015 und wird von SaSe mithin nicht mehr verletzt), zitieren „Internationale Stimmen zu Interessengebiet“, nennen die Daten der „Lesetour zum Erscheinen des Buches“ (sind inzwischen alle verstrichen) und beantworten „Fünf Fragen an Martin Amis“ … bevor der Roman beginnt!

Martin Amis: Interessengebiet
Roman. Aus dem Englischen von Werner Schmitz
Kein & Aber Zürich 2015
ISBN 978-3-0369-5724-1
420 Seiten / € 25,00
(dort auch: Pressespiegel weiterer Rezensionen)

Härteskala: 8 (im Vergleich dazu rangieren Jonathan Littells Die Wohlgesinnten“ bei 10 – von 10)

Als Schattensadismus gegen Somuncu (der Kerle regt mich echt auf!) abschließend nachstehende „Annäherung“ (Video), da sicherlich auch wieder „sträflich falsch“, weil oberflächlich und möglicherweise nicht von dem eisernen Willen zum blutbodentiefen Nachdenken beseelt:

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