SaSe81: Rezension Viktor Pelewin „SNUFF“: Inspirationen hinter Verständnisstacheldraht

„Utopie“ steht auf dem Cover von Viktor Pelewins Roman SNUFF. Ganz exakt ist es eine Dystopie, also Anti-Utopie, eine Zukunft um Abgewöhnen. Aber das ist nicht das einzige Etikett rund um dieses literarische Mammutmahl, das Leser in die Irre führen könnte. Unter anderem wird der Roman des sich selbst als „Post-Russe“ bezeichnenden Autors auch als Satire zum Ukraine-Konflikt vermarktet (Quelle). Roman Halfmann bezeichnet dieses Ranking in seiner Rezension auf Literaturkritik.de als „werbestrategische Aufschneidung“ [?] (Quelle) des Herausgebers. In der Tat dürfte es dem Leser schwerfallen, in den 500 Seiten starken und den Leser maximal fordernden Werk über Begrifflichkeiten und Namen hinaus tragende Bezüge zu dem Konflikt herzustellen. Kein Wunder: Das russische Original erschien schon 2012 (unter dem nämlichen Titel: S. N. U. F. F.), kann sich also auf den „Ukraine-Konflikt“, wie er seit 2014 in Europa verstanden wird, gar nicht beziehen.

Die Kategorisierung als Satire war auch der Anlass für SaSe gewesen, das Buch zu besprechen. Das sollte ich dann später etwas bereuen, denn ich fühle mich durch SNUFF ein wenig überfordert! Trotzdem: Halfmann lobt die „verlegerische Großtat“ des Tweeback-Verlags, die er auch an der „sauberen und intelligent kommentierten Übersetzung“ festmacht. Der Verlag selbst sortiert die in Buchdeckel gepresste Herausforderung dann gleich in seiner neuen Sparte „Weltliteratur“ ein. Mit diesem Ranking kann man sich Ignoranz nicht leisten.

Meine besondere Hochachtung gebührt Heinrich Siemens, der die komplex inventarisierte Anti-Utopie aus dem Russischen übersetzt hat und dem Leser mit seinen Anmerkungen wenigstens etwas Hilfe an die Hand gibt.

Orientierung für den sich unsicher Annähernden bieten mindestens zwei Konsens-Label. Sicher ist: Das SNUFF-Szenario ist „postapokalyptisch“. Auch d’accord: „Auseinandersetzung mit dem Spätkapitalismus“ (FAZ). Der Satire-Kritikerin allerdings käme es nicht in den Sinn, das Werk als Ganzes diesem Genre zuzuschlagen, auch wenn satirische Fäden auskämmbar sind.


Wer wann was wie wo?
Die komplexe postapokalyptische Welt, deren Fortschreibung früherer durch eine klassische Oberlinge-Unterlinge-Dichotomie erfolgt, wird aus zwei Perspektiven beschrieben: Da ist zum einen der Ich-Erzähler, „Kampfpilot“ und Medienkünstler Demian-Landulf Damilola Karpow. Ein beglückter Oberling, der im Zuge seiner Berufsausübung massiv und am langen Ende fatal in die Biografien des „Orks“ Grimm und dessen – eher zufälligen – Liaison Chloé eingreift.
Das erzählerische Gegenstück liefern die Lebens- und Erfahrungsberichte Grimms, in deren späteren Verlauf Chloé dann verlorengeht.   Ein erzählerischer Nebenstrang ist das komplexe Verhältnis von Damilola zu seiner „Lebensgefährtin“ Kaya, ein Roboter, an dessen Programmeinstellungen ihr Massa so lange herumexperimentiert, bis die Gefährtin ein unerwartetes Eigenleben entwickelt und ihn schlussendlich ins Verderben führt. Satirische Qualitäten haben dabei die maßgeblichen Einstellungsparameter: „Hinterfotzigkeit“ und „Spiritualität“. Kayas Porträt in ihrer Aufmachung (grüne Augenbraue) zu einem gemeinschaftlichen Event findet sich als Abbildung auf dem Buchcover.

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SaSe81RezensionPelewinSnuff

Die Welt, in der sich ihre Geschichten abspielen, hat nichts mehr mit der bisher bekannten zu tun, entbehrt der klassischen Einteilungen in Kontinente, Nationen und Großmächte. Die gibt es nicht mehr. Die „Big Byz“-Kugel mit ihren Byzantinern schwebt über dem Unterreich „Urkaine“ (Andockstelle für die Mär von der Ukraine-Satire) mit deren Einwohnern, den  „Orks“, und hält diese in einer komplexen wie perversen Abhängigkeit und konstanter Verelendung. Zentrales Manipulationsmittel sind die titelgebenden SNUFF-Filme, eine schwer vorstellbare Mélange von Kriegsfilm und Porno. SNUFF-Filme sind keine Unterhaltung, sondern ein Mysterium und die Wahrheit (S. 332):

SNUFF – das ist das Leben selbst, mit der Liebe im Zähler und dem Tod im Nenner. Ein solcher Bruch hat gleichzeitig den Wett Null und Unendlich – wie auch Manitu, der diesen Bruch einfordert.
(Viktor Pelewin: SNUFF, S. 302)

„Manitu“ ist einer der wenigen Begriffe und zentralen Konzepte, die gleich zu Anfang durch eine Übersetzer-Anmerkung erklärt wird.

Das Wort Manitu hat in diesem Buch verschiedene Bedeutungen (vgl. S. 199): Es ist die Bezeichnung der obersten Gottheit, des Monitors/Computers und heißt schließlich „Money“, too“
(ibid.; Anmerkungen des Übersetzers)

Der Verweis auf Seite 199 des Romans zeigt, dass der Autor selbst dem Leser erst zweihundert Seiten später den Begriff zugänglich macht.

Die Manipulation der öffentlichen Meinung durch Medien und Kunst ist ein von Pelewin über sein Sprachrohr Damilola interessant kommentiertes und ausgearbeitetes Nebenthema der Dystopie. Die Geschichte der Menschheit bezeichnet er als die Geschichte der massenhaften Desinformation (S. 205). Medien- und Meinungsmanipulation verknüpft er mit den Begriffen Macht und Wahrheit – in dem von ihm entworfenen „Postinformations-Zeitalter“.


Der Verständnisstacheldraht
Die Phantasie und Kreativität, mit der Pelewin diese trübe Welt kleinteilig inventarisiert, ist bewundernswert. Nur leider: Er erklärt seine Begriffe nicht oder erst nach mehreren hundert Seiten (Beispiel „Manitu“), so dass die Lektüre unnötig anstrengend wird. Anderes Beispiel: Die im Big-Byz residierenden und für die Exekution der herrschenden Ideologie bedeutenden „Sommeliers“ werden erst weit in der zweiten Hälfte des Buches als die Gesamtheit von Journalisten, Wissenschaftlern und Schriftstellern  erklärt – also die „Intelligenzija“ – , die jedoch im Auftrag der Macht unterwegs sind.

Halfmann kategorisiert die Lektüre des Romans deshalb auch als „Fleißarbeit“ – zumindest bis zur Hälfte des Buchs, ab der der Leser sich nach mühsamer Eigenarbeit einigermaßen orientieren kann. Sein Fazit:

Gleichwohl gelingt dem Autor eine gelegentlich intelligente, jedoch immer wohltuend geschmacklose Überzeichnung heutiger Zustände, ohne gleichwohl die ausgetretenen Pfade herkömmlicher Dystopien zu verlassen oder gar die ironische Tiefe des zuletzt auf Deutsch veröffentlichten Romans „Tolstois Albtraum“ nochmals zu erreichen – so bleibt eine Art Panem für Erwachsene übrig, was ja auch kurzzeitig zu befriedigen vermag.
(Literaturkritik.de Roman Halfmann: „Panem für Erwachsene„)

„[…] ja auch kurzzeitig zu befriedigen“ … ein eher suboptimales Urteil für ein Stück „Weltliteratur“?


Wahrnehmung, Weltbild, Wahrheit
Von „Satire“ und (durchgehender) ironischer Tiefenschärfe muss sich der SNUFF-Leser verabschieden. Aber Pelewins Sicht und Begrifflichkeiten aus der trüben Zukunft heraus auf unsere anspruchsvolle Gegenwart bieten vielfältige Ansatzpunkte für Perspektivwechsel und Inspirationen. Trigger-Punkte: Die Big-Byz-Ideologie geht mit Medienkonsumenten um wie mit kleinen Kindern (S. 201), denen sie die Elemente zur Konstruktion des gewünschten Weltbildes liefert. Die Bezeichnung „Zauberer des Altertums“ rekurriert auf die Medienschaffenden der Gegenwart, welche die Realität beherrschen, indem sie die beiden „Künste“ – Nachrichten und Fiktion – manipulieren und kombinieren. In unsere Gegenwart, in der Romanperspektive die „Welt im Altertum“, versuchen die „Sippen“ mit Hilfe ihrer Zauberer (Medienschaffende) eine eigene Version der Wirklichkeit zu erschaffen (S. 202). So erklärt Damilola Grimm die Welt und kommt von dort aus zu Konzepten wie „Schwarmintelligenz“, der Funktion von kriegerischen Auseinandersetzungen und den moralischen Standards i. e. die von den jeweiligen Machthabern herausgegebenen Definitionen dessen, was als „verbrecherisch“ zu gelten habe. Die wiederholte Anspielung auf einen „großen Vernichtungskrieg“ (z. B. S. 206) ist die Voraussetzung für das Entstehen der Utopie, in der Damilola, Kaya, Grimm und Chloé leben.

Ein Bezug zu aktuellen gesellschaftspolitischen Diskussionen etwa steckt auch in der „Erfindung“ der Orks mit dem Ziel, dass Menschen (Byzantiner) reinen Gewissens hassen können (S. 207). Demgegenüber befinden wir uns (im weit zurückliegenden Jahr 2016) noch in einem zivilisatorisch „früheren“ Stadium, wo ebenso verzweifelt wie vergeblich versucht wird, den Menschen das Hassen auszureden. Pelewins Lösung halte ich – aus satirischer Sicht – für eine diskussionswürdige Alternative. Mich inspiriert diese wohltuende Dispens eines zentralen moralischen Verdikts so: Einen Versuch wäre es wert, wenn sich ein anderes Objekt für den Hass finden ließe – zum Beispiel Suren?

Auch Pelewins Konzept eines weiteren zentralen Manipulationswerkzeugs birgt Aktualität. Maßstab politischer Korrektheit in Big Byz ist die „Smart Free Speech“, eine Kontrollsprache. Verstöße werden drastisch geahndet. Wem fiele dazu passend nicht gleich die Unwort-Wahl 2015 ein, die den Menschen in einer sich fundamental verändernden Gesellschaft ein Werkzeug zur (nicht erwünschten) Wahrnehmung von Welt aus der Hand schlägt?

Eine nicht unerhebliche, wenngleich überwiegend unerquickliche Rolle spielen das Thema Sex und sexuelle Orientierungen, Lebensrealität und Funktion geworden in Damilolas „Gefährtin“, der „Sure“ Kaya. Feministinnen und feministisch orientierte Lobbygruppen haben in Big Byz das Sagen und damit auch gleich das sexmündige Alter auf 46 Jahre heraufgesetzt. Das öffnet den Markt für die Hersteller von entsprechenden Sex-Robotern (Suren) wie Kaya, deren Besitz allerdings nur für Oberlinge finanziell möglich ist. Menschen mit dieser sexuellen Orientierung sind „Pupophile“, die sich mit ihren Interessen und den anderer im „GULAG“ zusammenfinden. Das Akronym umfasst „Gay, Lesbian, Animalist“ (wobei „Animalist“ so ziemlich das Gegenteil von „Tierrechtler“ bedeutet und die Gruppe der Zoophilen und Sodomiten umfasst) sowie alle weiteren „unspecified“ oder „unclassified“ oder „undesignated“ sexuellen Orientierungen (S. 277). Was will man auch machen, wenn legaler Sex auf das kleine Zeitfenster vor der Menopause terminiert wird. Überdies und in der logischen Folge gibt es Nachwuchsprobleme, welche die Byzantiner dazu zwingt, ihre Babys vom „Orkmarkt“ zu beziehen. Für die dazugehörige Dienstleistung stehen Kindesentführer zur Verfügung.

Kaya bringt ihren Herrn und Meister dann durch ein (sexuelles?) Lusterlebnis namens „Dopamin-Resonanz“ vollständig unter ihrer Kontrolle, das alles bisher Dagewesene und Vorstellbare toppt. Details zu dieser Dopamin-Resonanz und wie Kaya sie herzustellen versteht, werden dem Leser dankenswerterweise erspart.


Schweres Füllhorn der Phantasie und der Inspiration
Die Leseempfehlung für Pelewins SNUFF kann nicht uneingeschränkt sein. Der Roman ist anstrengend und verlangt dem Leser einiges ab. Wer sich auf ihn einlässt, gerät in eine düstere, aber insgesamt verspielt und phantasiereich inventarisierte Welt. Damilolas Analysen und Erklärungen dieses regelstarken, auf Vorspiegelung falscher Tatsachen basierenden Kosmos bieten vielfältig Ansatzpunkte, die Gegenwart zu „reloaden“ und neu zu bewerten. Die Intertextualität Pelewins ist hoch mit zahlreichen Anspielungen auf Kunst (z. B. Albrecht Dürers Die vier apokalpytischen Reiter), Film (z. B. Star Wars), Musik (z. B. Richard Wagners Parsifal) und Geistesgeschichte (z. B. Friedrich Hegel).

Viktor Pelewin: SNUFF
Verlag: Tweeback
ISBN: 9783944985022
Gebunden mit Schutzumschlag, 494 Seiten
€ 24,95

Der Verlag listet recht praktisch auf seiner Webseite die bisher erschienen Rezensionen des Romans, so dass SaSe-Lesern auch andere Lesarten des Werks zugänglich sind.

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