SaSe88: Rezension Piet Klocke „Kühe grasen nicht …“: Ein Zettelkasten, der befähigen kann

Treffender hätten Autor Piet Klocke und Heyne-Verlag den Buchtitel nicht wählen können: Kühe grasen nicht, sie sprechen mit der Erde. Denn wenn Kühe das nicht tun – und sei es nur als Möglichkeit -, dann lässt sich Welt grundsätzlich anders wahrnehmen? Wenn aber der Leser zusammen mit Autor und dem stummen Krieger Arzak über psychedelisch anmutende Landschaften gleitet, unter sanfter Anleitung lernt, Realität zu dekonstruieren, Perspektiven zu verändern und die Dinge auseinander zu halten, dann war der Heilige Gral noch nie so nah? Oder sei es auch nur die Kraft spendende Illusion davon!

Mit Piet Klockes Neuerscheinung Kühe grasen nicht, sie sprechen mit der Erde fällt dem Leser ein Schlüssel in den Schoß. Aber er muss etwas mehr investieren als die 19,99 Euro für ein gebundenes Buch mit Bonus-CD: Die Bereitschaft, sich durch knapp 300 Seiten Zettelkasten eines satirisch-philosophischen Multitalents zu ackern und die äußerst „seltene Erde“ Hirnschmalz.


Antipasto
Hier vorab einige Appetithäppchen (chronologisch):

Es gibt Zusammenhänge, da sehe ich mich außerstande, auch nur ein Wort vors andere zu setzen.
(Piet Klocke: Kühe grasen nicht, sie sprechen mit der Erde, S. 30)

Neuer Ansatz für Volksbetrachtungen, Teilvolkbetrachtungen mit Ganzheitsanspruch („Wir sind das Volk“) und eine zuverlässige Wahlprognose:

Um ein Ganzes zu ergeben, müssen 2 Hälften sich darüber im Klaren sein, dass sie welche sind. Nicht jeder dahergelaufene Teil ergibt mit einem beliebig andern zwangsläufig ein Ganzes. Hält sich allerdings ein Teil bereits für das Ganze, kommen wir gar nicht zusammen.
(ibid., S. 53)

*

Das Leben ist doch der Komödiant, ich bin damit nicht angefangen
(ibid., S. 57)

Ursache und Wirkung auseinanderhalten!

Typisch, dass Trost gespendet wird.
(ibid.; S. 114)

Hier überfliegt Arzak gerade das Unwortland?

Ob ein oder mehrere Verhältnisse, die Verhältnismäßigkeit misst in beiden Fällen leider nur sehr ungenau.
(ibid., S. 122)

Ein neuer Ansatz für den Umgang mit AfD und Pegida?

Eine Tasse am Henkel mit 1 Finger so schnell drehen, dass der Kaffee es nicht merkt.
(ibid., S. 163)

Die Befreiung des Individuums von der selbstgewählten Flugunfähigkeit:

Philosophie ist die schönste und anregendste Theorie. Ein verspieltes Pony, das sich noch am Vergalopp erfreut. Man muss es nicht lieben, Leben findet problemlos alternative Erfüllung im Kleingedruckten jeglicher Hausratsversicherung. Dennoch: Ich denke, also fliege ich.
(ibid., S. 179)

Humor köpft den Daesh:

Als ich gestern Abend, nach einem kurzen Gespräch über sein Lieblingsthema (Lange-Western-Film-Nächte), Gott mit der Nachricht überraschte, dass auf der Welt neuerdings wieder geköpft und gesteinigt werde, entschwand er ungläubig mit den Worten: „Moment, ich hol mal die Akten!“
(ibid., S. 222)

Metereologie und Demografie:

Als Einzelwolke bezeichnet man Wolken, die ohne Geschwister aufgewachsen sind. Gründe hierfür können sein: der Gesundheitszustand einer der Elternwolken, Kinder und Familie nehmen eine weniger zentrale Stellung im himmlischen Wertesystem ein, die Befürchtung, durch weitre Wolken in eine stärke Abhängigkeit vom Partner zu geraten, ungünstige Standortbedingungen, grundsätzliche Abneigung oder der Wunsch, nicht zur Überbevölkerung des Planeten beitragen zu wollen. Bei verschiedenen Paaren, die sich nicht über die Anzahl der Kinder einigen konnten, kam es zum sogenannten Wolkenbruch.
(ibid., S. 239)


Aphorismen-Sammlung

Piet Klockes „Grasen-Buch“ eignet sich nicht für die chronologische Lektüre von Seite 1 bis Seite 285. Es ist ein Schmöker-Buch für jene, die Schmökern noch kennen und können. Kühe grasen nicht ist hauptsächlich eine Aphorismen-Sammlung, gegliedert in 40 Kapitel plus „Notizen“ zu jedem.
Fließtextkapitel über mehrere Seiten sind die Ausnahme; zum Beispiel: „Kapitel 15 In Momenten von Zeitsichtigkeit“. Und die fordern dem Leser dann auch ordentlich etwas ab. Dabei bedeutete „Fließtext“ noch nicht, dass die Absätze untereinander in textlinguistisch nachweisbaren Bezug zueinander stünden. Es klammert primär das Thema oder Motiv.

Hinzu kommen viele Fotografien; (zu) viele von Piet Klocke selbst in seinen verschiedenen biografischen Stadien. Die Fotomotive sind gern im (primär: französischen und niederländischen) Straßenbild auftauchende Schilder, Schriftzüge und Hinweise. Kostprobe: Foto eines Graffiti auf einer Mauer: „le temps est bom …“ mit der Bildunterschrift „Die Zeit macht bumm.“

Plus gelegentliche Gedichte, ent- bzw. ungereimt.


Kennen Sie Arzak?
Das alles versteht der Leser aber nicht ohne Arzak. Den führt Klocke persönlich ein:

Will ich abheben in die Freiheit des Denkens, der Fantasie, der wagemutigen Traumfabrik, in der die geistigen Süßigkeiten hergestellt werden mit all ihrer hellsten, überzuckerten Freude, verführerischen Erwartung, miesen Enttäuschung, blogbusternden Dunkelheit und der allgegenwärtigen Mutter Sehnsucht, benutze ich Arzak, diesen gezeichneten Helden, werfe mir seinen xxlangen Umhang über und stülpe den in die Länge gezogenen Blumentopftropenhut mit Nackensonnenschutzklappe auf, schwinge mich auf seinen beinlosen Flugsaurer, und los geht’s.
(ibid.. S. 15)

Bei diesen Freiheitsflügen, deren Destination (Wüste, Großstädte, Landschaften) von der Stimmung des Abhebenden bestimmt werden, steht alles offen, ist alles möglich. Der „Pilot“ zeichnet „skriptlos auf, was sich ergibt“:

[…] kleinste Befreiungen und Kämpfe um alles – dieser Comicfigur des französischen Zeichners MOEBIUS, alias Jean Giraud, der im März 2012 verstarb – entscheiden für sich, und ich verneige.
(ibid.)

Die Einführung schließt mit der Losung „Sich am Rätsel zu erfreuen, muss man es nicht lösen“. Der Autor entzieht sich damit der Erklärungspflicht, bleibt der Inspiration verpflichtet.

Arzak ist eine berühmte Comic-Figur des genannten Karikaturisten Jean Giraud alias MOEBIUS.

*

MOEBIUS Werke werden – je nach Kritiker – im Comic-Olymp angesiedelt. Ein Steckbrief des Flugsaurier-Pilots:

«Arzach», das ist ein auf einer Art Flugsaurier reitender Charakter in merkwürdiger Kluft, der auf ein paar wenigen Seiten je Story in einer Art Retro-Fantasywelt Frauen nachsteigt – sich unliebsamen Nebenbuhlern entledigend – und relativ unmotiviert Monstren metzelt respektive selber scheinbar grundlos attackiert wird. Die grafische Umsetzung mit ihrer die ganze Skala abdeckenden Farbgebung freilich ist superb.
(Comic-Check: „Moebius / Arzach: Die hermetische Garage – Abtauchen in fremdartige Sphären„; Hervorheb. SaSe)

Der Künstler selbst soll nach eigenen Angaben bewusstseinsverändernde Substanzen, vorzüglich Pilze, konsumiert haben. Die von ihm gezeichneten Welten sind psychedelisch, womit er das Unbewusste sichtbar zu machen trachtet. Wie von Klocke im oben zitierten Passus bekräftigt, nimmt (auch) MOEBIUS keine Rücksicht auf das Verständnis des Lesers / Betrachters.

Und Klocke fliegt dem genialen Duo in Kühe grasen sprachlich hinterher. Deshalb gilt für das Buch mit Abstrichen das schon für die Comics Gesagte:

Man kann mit Arzach alles Mögliche machen – eine sinnvolle Inhaltsangabe zu schreiben ist jedoch eher schwierig. So wartet der Covertext auch mit einer ziemlich schrägen Rezeptur auf, die den Leser etwas ratlos zurücklässt. Genau so mag es manchem Leser gehen, der bislang weder von Moebius noch von Arzach etwas gehört hat. Alles in allem lässt sich aber festhalten, dass es sich bei Arzach weniger um eine abgeschlossene Geschichte als vielmehr um eine Sammlung verschiedener Kurzgeschichten und Zeichnungen handelt, die alle einen (etwas seltsam gekleideten) Krieger zur Hauptperson haben, der mit einem geflügelten Reitsaurier durch psychedelisch anmutende Science-Fiction-Landschaften reist.
(Rezension von Dirk Steiger auf Zauberspiegel zu Buch „Arzach“, Cross-Culture; Hervorhebg. SaSe)

Klockes Versuch dieses pur auf Sprache aufgebauten Reloads von Arzaks Abenteuern und der Ausbeute seiner imaginierten Flüge auf den Schwingen der Freiheit des Denkens darf als vollständig gelungen klassifiziert werden. Das Grasen-Buch ist eine fortwährende Inspiration. Es überrascht mit veränderten Perspektiven, bisher nicht gezogenen Schlüssen, ver-rückten Assoziationen und schrägen Thesen: „Privat bevorzugt die Logik Gefühl“.

Zu den großen politischen und gesellschaftlichen Themen liefert es keine Lösungen, aber den Schlüssel dazu für den, der sich auf Arzak und Klocke einlässt. Plus anrührende Bescheidenheit: „Alles zu wissen wäre mir zu mächtig“ (S. 173). Und für manche Lösung mag die Zeit einfach noch nicht reif sein, denn wisse: „Erst gegen Mittag entwickelt sich die tiefe Freundschaft zwischen Wurm und frühem Vogel“ (ibid.).

Piet Klocke: Kühe grasen nicht, sie sprechen mit der Erde
ISBN: 978-3-453-20106-4
Gebunden mit Schutzumschlag und Bonus-CD
€ 19,99

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