TS142/15: Verriss + Appell 1 + Widerwärtig + Hass-Zeiten + Appell 2

+++ „Berliner Morgenpost“ verreißt Martin Amis „Interessengebiet“
Ein derartiger Verriss der KZ-Romansatire Interessengebiet (vgl. Rezension in SaSe62) gehört in das zu erwartende Spektrum der Reaktionen auf eine literarische Provokation wie die von Martin Amis. Die dabei von Katja Engler in der Berliner Morgenpost gewählte Terminologie kam so oder ein Abstufungen schon bei den Reaktionen auf Jonathan Littells Die Wohlgesinnten vor: „Gewaltporno“, Amis habe es gewagt „in Auschwitz eine Art Komödie anzusiedeln“, „exzessiv-pornografisches Überschreiten von Ekelgrenzen“ usw.
Aus welchem ideologischen Ansatz heraus die Kritikerin Amis Perspektive zurückweist, wird auch offenbar: In den 70er Jahren sei ihre Generation auf dem Gymnasium im Geschichtsunterricht ständig mit Original-Wochenschauen und Leichenbergen aus den KZs „traktiert“ worden. „Traktiert“? Sie fügt an: „Dabei traf uns, die wir in den 60er-Jahren geboren waren, keine Schuld. Wir hatten meist Eltern, die im Krieg Kinder waren und seelisch tief versehrte Menschen blieben. Und Großeltern, die dem Führer zugejubelt haben.“ Wieso: „dabei“? Darf Geschichte nur vermittelt werden, wenn ein persönlicher Bezug vorliegt? Und das mit der Elterngeneration ist offensichtlicher Dummfug. Und selbst für diejenigen, bei denen es „nur“ die Großeltern waren, beschränkte sich die Verantwortung nicht auf das pure Zujubeln. Und es fragt sich immer noch, was dieser Generationenabstand mit Geschichtsvermittlung zu tun hat.


+++ Offtopic: Beeindruckendes Briefing von „Social Media Watchblog“
Es tut gut zu lesen, dass Paris hier und da doch die Tagesroutine durchbricht. Das leistet auch Martin Giesler vom Social Media Watchblog mit seinem #Briefing angesichts des Terrors inklusive Appell:

Weil ich immer noch sehr unter den Eindrücken dieser schrecklichen Ereignisse stehe, erfolgt an dieser Stelle kein normales Briefing wie gewohnt. Vielmehr möchte ich den Moment nutzen, um daran zu erinnern, dass wir alle jetzt Verantwortung tragen dafür, welche Nachrichten und Bilder sich in der Welt verbreiten.
Die Verantwortung liegt nicht mehr nur bei den Journalisten, sie liegt auch nicht bei den Plattformen, sie liegt bei uns selbst. Wir müssen uns als Mediennutzer darüber bewusst werden, welche Macht uns durch die sozialen Medien gegeben wurde – zum Guten und zum Schlechten.
(Social Media Watch Blog 16.11.15: #Briefing im Angesicht des Terrors)

+++“BILD“ eskaliert Houellebecqs Satireroman zur Vorlage für Paris
Paris bringt erwartungsgemäß auch wieder extreme Widerwärtigkeiten der Journaille hervor. Die BILD-Zeitung vorneweg. Die macht groß auf mit: Ist Houellebecqs Bestseller eine Vorlage für den Terror?. Damit ist der Satireroman Unterwerfung des französischen Autors gemeint. Wer den gelesen hat, weiß natürlich, dass er keinesfalls eine „Vorlage“ ist für die aktuellen Anschläge, sondern sich mit dem Thema Islamisierung beschäftigt und dabei erkennbare Entwicklungen antizipiert hat, wie das immer wieder in der Literatur bei besonders begnadeten Autoren vorkommt. Michelle Huouellebecq jetzt nachgerade eine Verantwortung für die jüngsten Ereignisse zuweisen zu wollen, ist unter aller Kanone. Also typisch BILD!


+++ „Hamburger Abendblatt“: Satire in Zeiten des Hasses
Das Hamburger Abendblatt gibt eine detaillierte Aufstellung über die Kabarettveranstaltungen der kommenden Woche und Reaktionen von Satirikern und Kabarettisten auf Paris. Anders als nach dem 11. September 2001 soll es kein durchgehendes Satire-Moratorium geben.


+++ „D(d)enkfunk“: Treffer von Michael Feindler
Der Jung-Kabarettist und Denkfunk-Autor Michael Feindler entwickelt gelegentlich einen lächerlichen Hang zur Melodramatik und erhielt deshalb auf diesem Blog schon einmal eine Kakao-Freifahrt. Mit diesem Appell jedoch hat er einen Treffer gelandet.

Nur leider: Das, was man an exzessiver Kriegsrhetorik jetzt von europäischen Politikern zu hören bekommt, ist bei Weitem beängstigender als die Terroranschläge von Paris selbst. Dazu passend auch ARD ttt von gestern Abend mit den eindrücklichen Warnungen von Jürgen Todenhöfer. Er erklärt nachvollziehbar und durch die Geschichte (Irak) belegt, dass der sogenannte IS nachgerade auf militärische Interventionen des Westens spekuliere und sich dadurch immer noch mehr Zulauf sichere.

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