SaSe97: Rezension Gerhard Seyfried „Schilder Guerilla“: Zündend subversive Inspiration

Wer ein Schild aufstellen darf, der hat Macht. Ermächtigt sind etwa Ortspolizeibehörden, Unternehmen und Eigentümer. Die Elite. Schilder von Hartz-IV-Empfängern, Leiharbeitern und Zwangsprostituierten außerhalb von denen mit Protest im Kompositum sind mehr als rar. Die klassische (und möglicherweise obsolete) Sozialisierung in Deutschland trainiert die Schilderdikta als Ultima Ratio: „Rasen betreten verboten“. Geschrieben in Fleisch und Blut. Die ins Blech gestanzten Dekrete sind Stellvertreter der Mächtigen und in dieser Funktion ein so wirkungsvolles ES, dass der Stellvertretete sich auf ihre Wirkung weitgehend verlassen kann. Wer Schilder „angreift“, in Frage stellt oder gar verhohnepipelt, der greift die Mächtigen an.

Diese Attacke hat sich Comiczeichner, Karikaturist und Schriftsteller Gerhard Seyfried zur Lebensaufgabe gemacht. Und der Westend-Verlag ermöglicht es jetzt seinen Sympathisanten und denen seiner überzeugenden Sache, an dieser inspirierenden Subversion teilzuhaben.
Politisch steht er – klaro – links und sympathisiert vernehmlich, notwendig und wohltuend mit den Unterdrückten. 2013 unterstützte Seyfried die Linke im Wahlkampf.

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SaSe97RezensionSeyfriedSchilderGuerillaBuchcover

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Schilder Guerilla [sic!] titelt das Bilderbuch, das im August 2016 erschienen ist. Und ein Bilderbuch ist es in der Tat. Es kommt – abgesehen von Bildunterschriften – mit einer Seite „Text“ aus, eine Art Vorwort des Autors, das auch einen kurzen Einblick in seine Vita gewährt. Ansonsten sprechen die 192 ihr Geld werten Seiten so klar und deutlich, wie es 192 Seiten Text nur schwerlich vermögen würden.

Eine Systematisierung und thematische oder sonstige Einordnung der Bilder erfolgt nicht, sieht man von einer Art Vorkapitel unter der Überschrift „Frühe Schilderguerilla auf Postkarten“ ab. Der Verzicht auf eine solche Kategorisierung könnte Kalkül sein, denn so ist jede neue Seite eine Überraschung und macht das ganze Buch zu einem visuellen Abenteuer. Es zwingt zur Gesamtrezeption statt einer für den verzärtelten Leser schon vorbereiteten Selektion. Auch damit, damit jedoch nicht allein, stemmt sich Schilder Guerilla [sic!] gegen den Mainstream.


Bilder im Kontext ihrer Zeit
Wie sehr die Botschaft der Schilder und Bilder in ihrer grafischen und von Seyfried hochprofessionell verübten Verfremdung auch von ihrer (Entstehungs-)Zeit abhängen, zeigen drei bearbeitete Ansichtskarten vom Berliner Funkturm (S. 8) sowie die Holland-Belgien-Ansichtskarten auf den Seiten 12 und 13. Aus genanntem Vorwort kennt der Leser die verwendete Technik: Mit einem Skalpell schabte der Künstler die Farbschicht auf den Original-Postkarten sorgfältig ab, um an der Stelle seine Manipulationen einzufügen. Aber ein von einer Rakete getroffener oder in einem anderen Beispiel von einer Flugwaffe bedrohter Funkturm oder die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin (S. 10) sowie in Städte einschlagende Bomben tragen nach 9/11 und dem Syrien-Krieg eine ganz andere, ein massives Unbehagen hervorrufende Botschaft (als in ihrer Entstehungszeit). Und diese Botschaft lässt sich kaum mit Humor und Lachen verknüpfen. Deshalb war der Hinweis des Verlages auf das Frühwerk des Künstlers  weise.

Sanft zurück aufs Comicfeld führen dann das „Berliner Spreemonster“ (S. 10), die Monsterfresse im Arc de Triomphe oder die Nessi-Varianten in der Seine. Schon die von manipulierten Farbklecksen verunstalteten Polizisten vor der „Schnellreinigung“ (S. 18) transportieren 2016 eine andere Message als zu ihrer Entstehungszeit (vermutlich 70er Jahre). Als Lektor hätte ich dem Verlag empfohlen, diese Frühwerke mit einigen erklärenden und einordnenden Anmerkungen zu versehen, um jedes Missverständnis auszuschließen. Der idealistische Verlass auf die Rezeptionskompetenz der Leser erscheint der Kritikerin im Jahre 2016 doch zu naiv?


Für jeden Geschmack etwas dabei
Seyfried verfremdet und manipuliert Plakate, Schilder, Fotos, Ansichtskarten. Da ist für jeden Geschmack etwas dabei. Das „Warten-warten-warten-warten“-Schild bei der Post, „Aufzug im Freifall nicht benutzen“ (S. 26), „Grunzgebiet Sperrzone“ (S. 89), „Pakete einfach verschlampen“ (S. 93) oder das „Bräunungscenter Nazi“ (S. 117)  für die basalen Ansprüche, der „e-mail-Ersatzverkehr“ [sic!] (S. 61; inklusive Rechtschreibfehler, die insgesamt zu häufig und sehr ärgerlich sind) und die „Lügenwiese“ (S. 104) für die gehobenen. Wenn das Dixi-Klo zum „Wixi“-Klo (S. 96) oder zur „Furz-Knatter“ wird, verliert Seyfried ebenso wie beim „Kinderspülplatz“ – Schilder Guerilla [sic!] auf Kindergartenniveau. Oder musste das Buch vollwerden?

Subtiler dann Auto und Panzer mit den für diese Waffen abgewandelten Gesundheitsgefahrenhinweisen, wie wir sie auf Zigarettenschachteln finden.

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Eines der wenigen ohne Buch zur Verfügung stehenden Bilder. Die politische Botschaft ist klar (und inzwischen nicht neu). Ganz nett, aber Schilder [sic!] Guerilla hat viel mehr zu bieten, als dieses Foto erahnen lässt. Bildzitat Screenshot, abgenommen bei Gerhard Seyfried

Eines der wenigen ohne Buch zur Verfügung stehenden Bilder. Die politische Botschaft ist klar (und inzwischen nicht neu). Ganz nett, aber Schilder  Guerilla [sic!] hat viel mehr zu bieten, als dieses Foto erahnen lässt.
Bildzitat Screenshot, abgenommen bei Gerhard Seyfried

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Künstlerische Höhen erreicht Seyfried bei „Neue Deutsche [sic!] Leere“, „TTip-Ex“ (S. 185) oder dem Wander-Dünen-Design in Namibia (S. 173). Aktuellen Bezug haben neben dem „TTip-Ex“ auch „Monstersanto“ von „Buyer“ (S. 174). Außerdem erfährt der Leser via Guerilla-Attacken mit persönlichem Bezug  Biografisches über den Autor


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Mein absoluter Favorit, der mit seiner philosophischen Tiefe auch etwas aus dem Themenrahmen fällt: „Einer tanzt immer aus der Reihe“ (S. 44). Das Foto zeigt die Front eines Hochhauses mit kleinen Balkonen, die völlig identische gesichtsähnliche Schatten an die Hauswand werfen. Nur ein „Schatten“ hat plötzlich eine Pfeife im Mund. Dazu dann die Bildunterschrift: „Einer tanzt immer aus der Reihe“.

Yes! Das ist genau das, was ich persönlich von Satire erwarte: den Horizont erweitern, zum genauen Hinsehen zwingen, Rezeptionsmechanismen zerstören, neue Blickwinkel vorturnen. Und das tut Schilder Guerill[sic!] auf ganz vielfältige und besonders unterhaltsame Weise. Wenn der Verlag sich jetzt dann irgendwann noch eine/n Lektor_in leistet …

Wegen des tatsächlichen satirischen Potenzial des Buches stört mich die eher auf Marketing als auf Gehalt abzielende Verlagsaussage „Ein Bild lügt mehr als 1.000 Worte“ auf der Buchrückseite erheblich. Diese manipulierten Bilder lügen nämlich eben gerade nicht, sondern verweisen durch die grafisch hochprofessionell vorgenommenen Manipulationen auf tiefere Wahrheiten. Es ergeht der raketengleiche Herzenswunsch an den Verlag, doch bitte auf derart platte, marktschreierische und – gefühlt – auf jeden Satiriker niedergenagelten Attributshäufungen inklusive Rechtschreibfehler verzichten können zu wollen:

Schilderguerilla von Gerhard Seyfried: Hintergründig [sic], bissig, respektlos oder einfach nur saukomisch.
(Gerhard Seyfried: „Schilder [sic!] Guerilla“, Buchrückseite)

Das hat der Autor nicht verdient! Denn er bzw. sein Buch ist weit besser als dieses Kluster an abgedroschenen Satiriker-Zuschreibungen nahelegt, die – abgesehen von „hintergründig“ – ebenso auf Mario Barth angewendet werden.

Im Übrigen scheint sich der Verlag selbst nicht sicher zu sein, wie er denn nun das schwierige Wort „Schilder-Guerilla“ schreiben möchte: auf dem Cover steht es ohne den notwendigen Bindestrich, in der Buchinnenseite und in dem obigen Zitat dann wieder als auch mögliches Kompositum.

Doch diese wenigen Essigtropfen im Wein versenden sich ebenso wie das dafür von mir jetzt gerade verwendete schiefe Bild.
Gell: hö?

Deshalb die überzeugte SaSe-Empfehlung: Lesen!

Seyfried Gerhard: Schilder Guerilla
Westend-Verlag 01.08.2016
192 Seiten; 14,00 Euro
ISBN: 978-3-86489-153-3

Das Buch sei auch als E-book bzw. als „e-book“ [sic!] erhältlich. Wenn man allerdings den dort angegeben Link betätigt, erscheint:

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Bildzitat Screenshot der Westend-Verlagsseite

Bildzitat Screenshot der Westend-Verlagsseite

Ärgerlich.

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