SaSe27: TV-Kritik „3. Stock links. Die Kabarett-WG“ vom 18.06.2015: Die Zynismen des Pflegenotstands verbalisiert!

Die vom Bayerischen Rundfunk produzierte Sendung 3. Stock links. Die Kabarett-WG ist ein satirisches Expermimentalformat, das es so bisher im  öffentlich-rechtlichen Fernsehen nicht gab.  Die Selbstbeschreibung des Senders trifft in diesem Fall zu:

In der Kabarett-WG treffen messerscharfes Politik-Kabarett auf Comedy und Sitcom, Leidenschaft auf verkifftes Phlegma, Analyse auf pure Emotion.
(Quelle)

Stammpersonal dieser Kabarett-WG, die im Januar 2015 startete,  sind: die eher im Kontext des Düsseldorfer Kom(m)ödchen bekannte Maike Kühl, der Kabarettist Sebastian Pufpaff als deren Ehemann und Hannes Ringlstetter als deren Bruder. Dabei sind die oben zitierten Energien und Dynamiken passgenau auf die Protagonisten verteilt, die harmonisch zusammenwirken. Sebastian Pufpaff ist der zum kompromisslosen Zynismus neigende Analytiker und spielt sich selbst. Dass „verkiffte Phlegma“ mit stark hedonistischen Zügen trägt der als erfolgloser Musiker agierende Ringlstetter, der nach einem Seitensprung zu Hause rausgeflogen ist und sich mit gesellschaftstypischer Rücksichtslosigkeit bei seiner „Schwester“ und ihrem Mann mutmaßlich auf alle Ewigkeit eingenistet hat. Maike Kühl mimt die ambitionierte Karrieristin als Referentin im Kanzleramt mit Drang zu Höherem.

Die Möglichkeiten des neuen Formats erklärt Pufpaff gegenüber TV Spielfilm so:

"Wir haben durch diese Konstellation die Möglichkeit, politisches Kabarett komplett anders als bisher darzustellen", sagt Pufpaff. Wie in einem Spiegelkabinett weiß man schon nach kurzer Zeit nicht mehr, was links und was rechts ist. Da erweist sich der Kabarettist schon mal als der größere Kapitalist als die konservative Politikerin, und der scheinbar so anarchistische Musiker vertritt derbe Stammtischparolen.
(TV-Spielfilm; kein Datum eruierbar; mutmaßlich Januar 15)

Es ist hohe Zeit für neue Formate, denn:

Der ausschließlich moralisierende Kabarettist, der vorne an der Rampe wütet, funktioniert seiner Meinung nach nicht mehr.
(Sebastian Pufpaff im Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung am 29.01.2015)

Wohl wahr – und sicherlich und ganz besonders zutreffend etwa für karzinogene Kabarett-Antiquitäten wie Nuhr im Ersten.

Bisher wurden drei Folgen der Kabarett-WG (nach einer Pilotsendung im Dezember 2014) ausgestrahlt: am 29. Januar 2015 mit den Gästen Maxi Schafroth, Christian Tramitz und Petra Nadolny; am 6. März 2015 mit Stefan Waghubinger und am 18. Juni 2015 mit Christian Tramitz und Dieter Hollinderbäumer.

Folge 1:


 

Vom "Tagesspiegel" niedergeschrieben – wie jegliches politisches Kabarett
Das Satireexperiment wurde im Vorfeld von den Medien breit angekündigt; hier und dort inklusive Interviews mit den Protagonisten: Die Münchner Abendzeitung sprach dabei mit dem bekannten und erfolgreichen Kabarett-Autor Thomas Lienenlüke; die Gala und die tz mit Hannes Ringlstetter.

Gemäkelt wird allenthalben. So findet die NOZ die Frauenrolle mit Maike Kühl schlecht besetzt. Und das „Bekenntnis-Kabarett“ sei verzichtbar. DWDL sieht den Bayerischen Rundfunk mit dem Experiment im Wettlauf gegen das ZDF-Erfolgsprojekt Die Anstalt. Dazu fehle es der Kabarett-WG aber an Treffsicherheit.

Der totale Verriss kommt – comme d’habitude – vom Tagesspiegel, wobei Richard Weber klotzt, nicht kleckert:

Die Dialoge zwischen den Dreien – so kunstvoll, lebensecht und ausdrucksstark wie bei einer Schüleraufführung von Schmierentheaterdirektor Emanuel Striese. […] In welchem Paralleluniversum ist das wirklich komisch? Früher kam das laute Lachen vom Band. Heutzutage wird vor Publikum gespielt. Die Anwesenden wurden vor Aufzeichnung sicher eindringlich und mit vollgeladenem Maschinengewehr aufgefordert, über alles, aber wirklich alles zu lachen. Auf der ARD-Internet-Seite steht folgendes PR-Geschwafel: „In 'Dritter Stock links" trifft messerscharfes Politkabarett auf Comedy und Sitcom, Leidenschaft auf verkifftes Phlegma, Analyse auf pure Emotion.“ Vielleicht hätte man lieber den PR-Text verfilmen sollen. Die Kabarett-WG – nicht mal eine Kalauer-Kaschemme.
(Tagesspiegel 30.01.15:" Dritter Stock links in der ARD: Die Kabarett-WG – Nicht mal eine Kalauer-Kaschemme")

Dieses verbale Erbrechen muss den Kabarett-WG-Fan aber nicht weiter krümmen. Wer die TV-Kritiken des Tagesspiegel für politisches Kabarett häufiger rezipiert, lernt rasch: Sie sind vom Format, den Darstellern und dem behandelten Thema völlig unabhängig, schreien dafür in unwitziger Polemik alles in Grund und Boden, was anspruchsvolles politisches Kabarett (und damit links) ist (z. B. hier und hier)! Dem stehen gegenüber: „Humor mit Hirn“ und „Gags statt Gelaber“ (TV Spielfilm).

Guckst du selbst, Folge 2:


https://youtu.be/y5MxKA-8380

 

Dritte Folge thematisiert Pflegenotstand
Wie viele Folgen produziert werden, darüber sind im Netz unterschiedliche Angaben verfügbar. Focus etwa behauptet: sechs. In den Ankündigungen zu finden sind bisher nur drei; am 18. Juni 2015 erfolgte die Ausstrahlung der dritten Folge zum Thema Pflegenotstand (hier in der ARD Mediathek). Wer alle drei Sendungen gesehen hat, könnte zu dem Fazit kommen: Die beiden starken Jungs und die zugegebenermaßen etwas schwache Maike Kühl werden immer besser!

Den zu entsorgenden Pflegenotstand verkörpert mit großem schauspielerischen Können Dieter Hollinderbäumer, der ansonsten regelmäßig in der heute-show zu sehen ist. Er gibt den Herrn Pufpaff senior, der aus der vom eigenen Sohn inszenierten Versenkung auftaucht und Ringlstetter den Einnistplatz streitig macht. Sehr bald erhebt sich für die WG die Entsorgungsfrage für den phasenweise dement erscheinenden Pflegefall. Um alle Praxismöglichkeiten des Umgangs mit dieser existenziellen Herausforderung ausleuchten zu können, hat erneut Christian Tramitz als Pflegedienstchef oder fast eher als Tatort-Reiniger seinen Auftritt.

Den beiden Autoren Pufpaff und Lienenlüke gelingt es in Perfektion, alle empörenden Zynismen des aktuellen Pflegenotstands angemessen zu verbalisieren. Die Darsteller sind glaubwürdig und harmonieren. Der Plot ist zügig und bietet überraschende Wendungen. Nebenbei werden aktuelle Themen aufgegriffen und pointiert und störungsfrei in die Handlung eingebaut: die Ukraine-Krise, die Finanzkrise, der FIFA-Skandal, die Armutsdebatte, Erbschaftssteuer, Demenz, Patientenverfügung, Steuerhinterziehung und Schwarzgeldkonten in der Schweiz, die Flüchtlingstragödie im Mittelmeer. Bei der Zynismus-Übersetzung der politischen Praxis schrecken die Autoren vor nichts zurück: Als Pufpaff senior und sein Komplize das fingierte Sterben in der Schweiz ausbaldowern, fallen ihnen auf der Suche nach einer Ersatzleiche die vielen ertrunkenen Flüchtlinge im Mittelmeer ein.Da braucht der Zuschauer die Hand vor dem Mund zum Lachen ..


Eine Bitte: dem Infantilitätstrend widerstehen?
In manchen Kritiken bemängelt wird das schauspielerische Talent der drei Hauptprotagonisten. Kunststück: Sie sind Kabarettisten, keine Schauspieler; mit Ausnahme von Kühl. Dass sie eine Ausbildung an der Otto-Falckenberg-Schule in München genossen haben soll, merkt kein Mensch (Quelle). Auch wenn es der Feministin weh tut, so etwas zu schreiben: Die beiden Männer kompensieren das hinreichend!

Aber, aber, aber: Wer genau dafür verantwortlich ist, dass auch dieses wunderbare Satire-Experiment immer mal wieder in den reinen Klamauk und auf Slapstick-Ebene abrutscht, man weiß es nicht. Aber es tut schlimmen Abbruch. Beispiel: Bei den internen WG-Phantasien zum Ableben des verzichtbaren, erbtechnisch aber interessanten Seniors kommt es zu mehreren fiktiven Szenen, in denen die verschiedenen Mordvarianten durchgespielt werden. Um diesen Realitätsbruch dramaturgisch anzuzeigen, legen die Akteure dann jeweils bedeutungsschwanger den Zeigefinger an den Mund. Nahaufnahme. Blende. Die inszenierten Fiktionen sind peinlich albern und bedienen einen zunehmend auch im Kabarett Raum greifenden Fernsehtrend hin zur Infantilisierung des Zuschauers. Was soll das? Drei erwachsene Menschen, die mit der Helium-Flasche nicht klarkommen und sich versehentlich selbst außer Betrieb setzen und dabei dann auch noch wie die Dominosteine aneinander gereiht zu Boden sinken.Leute: Das ist peinlich!
Über die Schlussszenen, in denen Sebastian Pufpaff aufgrund seines plötzlichen Erbes von Journalisten gejagt wird, kann man ebenfalls geteilter Meinung sein. Die lässt SaSe dann aber noch als Geschmackssache durchgehen.


Signale aus dem Paralleluniversum
Der Tagesspiegel-Richard-Weber hatte – freilich mit Bezug auf die Sendung im Januar – gefragt, in welchem Paralleluniversum die Pointen der Kabarett-WG lustig seien. Hier das SaSe-Outing:

+ Ich finde es lustig und die tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse treffend karikierend, wenn Sebastian Pufpaff seiner Frau mitteilt, er habe die Hochzeit seinen Eltern getwittert, weil er sich nicht sicher war, ob sie einen Facebook-Account haben.
+ Ich muss spontan lachen, wenn Sebastian Pufpaff beim Rekurs auf die (erfreulichen) Abgänge bei der ARD (Beckmann, Jauch etc.) und dem Hashtag „wo einer geht, wird Platz für Neues“ en passant konstatiert: „Pierre Brice ruft auch nicht mehr an!“
+ Mich begeistern Dikta wie das vom „qualitativen Moratorium“ – „gesamtpolitisch“ -, die Freude daran weit über eine einzelne Sendung hinausreicht.
+ Dito bei: „Machen Sie sich einen Lenz. Den Rest macht Schlenz!“ oder „Der beste Preis für Ihren Greis!“
+ Ich bewundere Autorenkreativität, welche aus der phonetischen Nähe und der philosophischen Differenz von Hera Lind und Heraklit eine Pointe drechselt.

Und deshalb wünsche ich (= SaSe) mir von Herzen (allerdings mit wenig Hoffnung), dass diese phantastische Kabarett-Sendung fortgesetzt wird und zwar auch genau an diesem Sendeplatz, der es soo dringend nötig hat: im ARD-Abendprogramm! Dann wäre auch das chauvinistische Muff- und Modderstück Nuhr im Ersten etwas leichter zu ertragen …

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