Ein bisher unbearbeiteter Top meiner Artikelplanung der vergangenen Wochen: der auffallend hohe Altersschnitt der Bürger, die sich bekennend kritisch mit Kommunalpolitik beschäftigen. Wohin das selbst nicht mehr taufrische Auge schaut, fällt auf: Es sind überwiegend ältere Bürger, die – bildlich gesprochen – auf die Barrikaden steigen und die Verwaltungsspitzen öffentlich kritisieren. Das ist beim Forum Langenargen auffallend ebenso wie bei den Akteuren des Gastgeberverein Uhldingen-Mühlhofen (GUM), im Fall Ochsenhausen ebenso wie bei der Wählerinitiative Bürger für Überlingen (BÜB+). Und genau dessen erfrischender und mit seiner Themenvielfalt (z. B. im Gegensatz zu Forum Langenargen!) und Professionalität Hoffnung machender Blog nimmt mir dieses etwas schwierige Thema ab.
Herausgeber und Redakteur Dirk Diestel greift das Phänomen in einem kurzen (! Wettbewerbsvorteil gegenüber SaSe!) Beitrag am 24. Februar 2019 auf: „Von alten und jungen Kandidaten“.
Der Text rekurriert auf die BÜB+-Aufstellungsversammlung für die Kandidatenliste zur Gemeinderatswahl und die Bitte des anwesenden Südkurier-Vertreters, das Alter der Bewerber angeben zu lassen.
(Ich erspare mir die Recherche dazu, ob der Südkurier diese Bitte bei den Parallelveranstaltungen von CDU und Freie Wähler ebenfalls ausspricht …)
[Aktualisierung vom 28.02.2019:] Diese Annahme ist nicht zutreffend! Bei weitergehender Recherche stellt sich heraus, dass der Altersschnitt der Kandidaten schon bei der Berichterstattung über die CDU-Aufstellungsversammlung im November 2018 Berichtsthema war!
Aber Diestel kann nicht nur einen attraktiven Blog gestalten. Er tut etwas, was ich heute auch gerade bei Menschen, die sich politisch engagieren und öffentlich äußern, als seltene Tätigkeit wahrnehme: lesen; und zwar nicht im Internet auf Facebook & dubiosen Blogs ohne Impressum (oder im Output dieses unsäglichen Kopp-Verlags), sondern in diesen – na, wie heißen sie noch? – richtig: Büchern!. Er trifft mit seinem Literaturzitat auf eine Bildungslücke bei mir, denn der durchaus lesegierig machende Titel „Vom großem und kleinen Widerstand. Gedanken zu Zeit und Unzeit“ eines Buchs (von vielen!) aus der Feder des Chefredakteurs der Süddeutschen Zeitung, Heribert Prantl, fehlt auf meiner Leseliste (noch).
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Prantl beantwortet in diesem Buch wohl, folge ich dem Kollegen Diestel, die auch hinter meiner zitierten Artikelplanung stehende Frage, wie denn dieser objektiv feststellbare hohe Altersschnitt zu bewerten ist. Über eine Liste von Buchzitaten kommt Diestel zu dem Schluss:
Bezogen auf die überdurchschnittlich vielen älteren Kandidaten und Bewerber um einen Sitz im Gemeinderat heißt das für uns: Seien wir froh, dass wir auf jeder Liste, egal welche Farbe sie hat, die Älteren haben, die den langen Herbst des Lebens nutzen wollen, ihre Erfahrungen aus Jahrzehnten für die Gemeinschaft einzubringen. Alleine das zählt. Nicht gezählte und addierte Jahre.
(Blog Bürger für Überlingen BÜB+, 24.02.2019: „Von alten und jungen Kandidaten“)
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Übrigens finde ich es negativ bemerkenswert, wenn sich Bürgerrechtler gegenüber dem politischen Gegner und seinen Wasserträgern für das biologische Alter der „Leute“ (Anspielung auf eine diskreditierende Wortwahl des Südkurier-Redakteurs Stefan Hilser in seinem „Newsletter“ vom 21.02.2019 für die BÜB+-Kandidaten) rechtfertigen muss, die Grundrechte in einer Demokratie in Anspruch nehmen? Journalistisch würde mich eher interessieren, wie sich dieses Phänomen erklären lässt – und ich habe da durchaus ein paar Ansatzpunkte – als es gleich wieder zu bewerten und als „Argument“ gegen diese „Leute“ einzusetzen?
Hinsichtlich der Bewertung kommt Prantl in seinem Buch wohl zu anderen Ergebnissen als der Südkurier in Überlingen, der sich eher der pragmatischen Aspekte des Phänomens abwertend zu bedienen weiß. Zitat dazu aus einer kompetenten Rezension des Buches:
Es sind Menschen, die ihre Überzeugungen nicht einfach für sich gelebt haben, sondern sich damit auf den öffentlichen Markt begeben haben, die laut und deutlich, überzeugend und zornig, empathisch und fordernd gegen Missstände und Fehlentwicklungen und ihrer Meinung nach falschen, politischen und gesellschaftlichen Entscheidungen vorgegangen sind – strategisch und kalkuliert berechnend, wagend und selbstbewusst, emotional und auf Glück bauend. Allen ist gemeinsam, dass ihr Wirken und ihre Überzeugungen im Moment der jeweils aktuellen politischen und gesellschaftlichen Situation kontrovers zur Diskussion stand und sie Angriffen sowohl von ihren Freunden, als auch ihren Gegnern ausgesetzt waren. Ihre Standhaftigkeit, die nicht Sturheit oder Besserwisserei bedeutet, ist vermutlich die Eigenschaft, die ihr Wirken erinnerns-, erzählens-, nachahmenswert und diskussionswürdig macht. Dass dabei auch unterschiedliche Auffassungen, positive und negative Bewertungen der aufgeführten Aktivitäten durch die Leser zur Sprache kommen dürfen und sollen, unterscheidet die ausgewählten Erzählungen von Dogmen oder alleingültigen, ideologischen „Wahrheiten“ und zeigt, dass wir es hier mit Menschen zu tun haben, die Vorbilder sein können für ein demokratisch und zivilgesellschaftliches Bewusstsein eines jeden von uns!
(Social Net / Rezension von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer: „Heribert Prantl: Was ein Einzelner vermag“; Hervorhebg. K. B.)
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