Die Anzahl der Phänomene, die ich bei mir bei aller Ausbildung, Recherche und Liebe, nicht mehr erklären kann, steigt. Dabei variiert meine emotionale Distanz zur jeweils beobachteten Steigung. Im Fall der „Journalistin“ Mesale Tolu allerdings ist sie besorgniserregend gering. Ich fühle so etwas Pathetisches wie „Verrat“?
Das Problem fängt schon damit an, dass uns – den Medienkonsumenten – die Frau kurdischer Herkunft mit dem wirklich erschütternden Schicksal – ihre Inhaftierung in der Türkei – von Anbeginn an als „Journalistin“ verkauft wurde. Auch der Mesale-Tolu-Wikipedia-Eintrag definiert sie so. Bei einer Google-Suche verkoppeln viele Treffer ihren Namen mit der Berufsbezeichnung „Journalistin“.
Diese Etikettierung ist auch deshalb „funktional“, weil damit der politische Gesamtkomplex Tolu ganz elegant in die offizielle Position der deutschen Politik gegenüber dem zunehmend autokratischen System in der Türkei unter dem schier allmächtigen Präsidenten Erdogan passt.
In ihrer doppelten Funktion als unbestrittenes, aber auch sehr medienwirksames Opfer dieses repressiven Systems und als Leuchtürmin einer im Gegesatz dazu nahezu als berauschend dargestellten Pressefreiheit in der Bundesrepublik reist Tolu durch die TV-Sender und berichtet dort von ihrem beeindruckenden Schicksal (Inhaftierung mitsamt Sohn) sowie dem ihrer zu zahlreichen Berufskolleginnen und –kollegen in türkischen Gefängnissen. Tolu ist inzwischen so berühmt, dass sie bei phoenix persönlich auftritt. Alles gut.
Und dann dies: Am 17. Juni 2019 verkündet Schwäbisch Media lesbar stolz, sich diesen Promi unter den Nagel gerissen zu haben. Und zwar als Volontärin!
Bitte? Eine ausgewiesene (in beiden Wortbedeutungen!) Journalistin, die in ihrem Buch, bei allen möglichen Veranstaltungen und im Fernsehen als Journalistin gelabelt wird, absolviert ein Volontariat?
Ein Volontariat ist eine Ausbildung. Wieso benötigt jemandin, die beruflich schon so sehr Journalistin ist, dass sie dafür im Gefängnis saß, eine „Ausbildung“? Das ergibt für mich keinen Sinn! In der Pressemitteilung von Schwäbisch Media heißt es dazu:
„Seit ihrer glücklichen Rückkehr nach Deutschland gab es regelmäßig Kontakte zwischen Frau Tolu und uns“, sagt Hendrik Groth, Chefredakteur der Schwäbischen Zeitung. Dabei traf der Wunsch Tolus nach einer fundierten medienübergreifenden Ausbildung im Bereich des Regional- und Lokaljournalismus auf das Interesse des Medienhauses an engagierten und talentierten jungen Journalisten. „Wir stellen eine Volontärin ein, die bereits Erfahrung mitbringt, aus unserer Region stammt und durch ihren familiären Hintergrund interessante Perspektiven in den redaktionellen Alltag einbringt“, betont Groth. „Das ist uns wichtig, nicht ihre Geschichte. Frau Tolu wird in unseren Redaktionen eine ganz normale Volontärin sein.“
(Schwäbische Media Pressemitteilung 17.06.2019; Hervorhebg. K. B.)
Sorry, aber: Bullshit! Wie glaubwürdig ist es, wenn eine Journalistin, deren berufliche Arbeit und ihr daraus resultierendes Schicksal unter den besonderen Bedingungen in der Türkei zum globalen Skandal aufkochte, jetzt plötzlich das Bedürfnis verspürt, eine „Ausbildung im Bereich des Regional- und Lokaljournalismus“ zu erfahren? Etablierte Journalisten mit Ruf, Ruhm und Fernsehauftritten absolvieren keine Volontariate. Eine übliche journalistische Laufbahn führt VOM Lokaljournalismus in die überregionalen, wenn nicht sogar internationalen Rubriken Politik, Wirtschaft und Gedöns. Aber nicht in umgekehrte Richtung!
Und dass Mesale Tolu bei der Schwäbischen Zeitung eben nicht „eine ganz normale Volontärin“ ist, erkennt auch der Gelegenheitsdenker schon allein an dem Faktum dieser Pressemitteilung. Denn für „ganz normale Volontärinnen“ gibt Schwäbisch Media keine Pressemitteilung heraus. Und über eine „ganz normale Volontärin“ berichtet auch nicht die SWR-Landesschau.
Leser derat für dumm zu verkaufen, zeigt die rotzfreche Unaufrichtigkeit von Akteuren wie dem SZ-Chefredakteur Hendrik Groth.
Für mich glockenklar: Die Schwäbische benutzt Mesale Tolu zu Marketingzwecken.
Merkt sie das nicht oder ist sie gar damit einverstanden?
Vielleicht bin ich überempfindlich, aber wenn Mesale Tolu in und für die Lokalredaktion Biberach – ein Ort in der Welt, der mit Sicherheit hinter der allerletzten Biegung des Flusses liegt – einen Artikel über Arzneimittelengpässe in den regionalen Apotheken abliefert, schäme ich mich fremd.
Okay, es hätte auch schlimmer kommen können. Oder es kommt sogar noch schlimmer und sie berichtet demnächst über die Jahreshauptversammlung des Akkordeon-Spielring Mettenberg?
Es ist auch nur schwer vorstellbar, dass es möglicherweise existentielle oder auch nur wirtschaftliche Gründe für diese Prostitution gibt?
Bei mir dominiert insgesamt ein laut polterndes Störgefühl zu einem solch perversen Arrangement.
Und im Übrigen fühle ich mich persönlich verraten. Ich hatte großen Anteil an dem Schicksal von Mesale Tolu genommen. Und jetzt macht die junge Frau sich zur Marketingmähre einer im Monopol agierenden Regionalzeitung, die in der Kritik steht, lokalen Möchtegern-Herrschern die Stange zu halten und über wichtige gesellschaftliche und politische Entwicklungen in der Region gezielt NICHT zu berichten? Eine Zeitung, die zum Tag der offenen Tür einlädt, zu dem man sich dann aber anmelden muss; inklusive einer Programm-Vorschau, die vermuten lässt, dass Besuchern eben nicht die Tagesrealität des Lokaljournalismus gezeigt wird.
Gefühlt ist Mesale Tolu zum „Feind“ übergelaufen, denn für Demokratiefreunde und Transparenzliebhaber sind Südkurier und Schwäbische Zeitung der perfide Verrat an den wunderbaren Möglichkeiten, welche die Verfassung und das nicht ausgefüllte Postulat von Pressefreiheit in diesem Land eröffnen.
Ich möchte mich auch einmal in die melodramatische Pose werfen: Frau Tolu, Sie haben mich bitter enttäuscht!