Der Anspruch ist steil. Das Versprechen ist süß. Und die bisherige Resonanz kränkelt. Es geht um: „Patient Digital“ [sic], das digitale Gesundheitskonto. Mit einer finanzieller Unterstützung in Höhe von 150.000 Euro vom Ministerium für den ländlichen Raum (LMR) soll „Patient digital“ jetzt modellhaft im Landkreis Sigmaringen eingeführt werden.
Am 7. Dezember 2017 fanden dazu zwei Informationsveranstaltungen in der Stadthalle Sigmaringen statt; jeweils zielgruppenspezifisch eine für Apotheker und eine für Ärzte. Im ersten Veranstaltungsteil saß sage und schreibe ein (1) Apotheker. Kein Zufallstreffer. Der Apotheker Simon Forster ist für sein gesundheitspolitisches Engagement im Kreis bekannt. Seinen Eremiten-Status in der Infoveranstaltung verhinderten zwei Vertreterinnen aus der mit „Patient digital“ ebenfalls angesprochenen Zielgruppe Altenpflege: Sonja Kerle vom St. Michaelstift der Vinzenz gGmbH nahm zusammen mit ihrer Kollegin Christine Schilling teil.
Der zweite Veranstaltungspart „Ärzte“ wurde immerhin von sechs Medizinern besucht; sechs von rund 250 im Landkreis Sigmaringen, die alle von den Veranstaltern schriftlich eingeladen worden waren.
Nicht anwesend war die etablierte Regionalpresse. Möglicherweise verpassen die dortigen Protokollanten so etwas wie eine Zeitenwende, einen Paradigmenwechsel im Patienten-Gesundheitssystem-Verhältnis oder Kleineres? Bisherige Berichterstattung über das Projekt gibt es nur in der Schwäbischen Zeitung, die über eine erste Info-Veranstaltung für geladene Gäste Anfang November 2017 berichtete und dabei auch nicht die Bedenken verschiedenster Akteure gegen dieses Projekt unterschlug.
Einer der Bedenkenträger ist der baden-württembergische Landesdatenschutzbeauftragte Dr. Stefan Brink.
Das Thema Datenschutz bei „Patient digital“ initiierte deshalb auch eine Folgeberichterstattung der Schwäbischen Zeitung mit der Erfindung eines baden-württembergischen Gesundheitsministeriums, worüber ich mich hier lustig gemacht habe.
Das Projekt Einführung eines digitalen Gesundheitskontos (im Landkreis Sigmaringen) ist komplex und ambivalent und schwerlich in 70 Druckzeilen annähernd fair zu beschreiben. SaSe nimmt sich etwas Zeit und Raum und versucht es einmal:
Ein erster Einblick ins Thema:
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Die Akteure
Die vom Projekt angesprochenen und im günstigsten Fall beteiligten Zielgruppen sind: Patienten (an erster Stelle), Ärzte, Apotheken, Krankenhäuser, Pflegeheime und sonstige medizinische Dienstleister. Ein Grund für die bisher eher zurückhaltende Resonanz auf das für alle beteiligten Zielgruppen Vielversprechende mag im geringen Bekanntheitsgrad der Akteure liegen.
Da ist zum einen die eingetragene Genossenschaft Gesundheitsnetz Süd (GNS), ein Ärzte-Netzwerk mit Sitz in Ehingen, das Nicht-Medizinern eher unbekannt sein dürfte. Als Dachverband bündelt GNS diverse kleinräumigere Ärzte-Netze (eine Übersicht derer hier) – unter anderem zum Beispiel das Sigmaringer Netz Ärzte im Landkreis (SIG-NAL).
Der GNS-Vorstand setzt sich aus drei Personen zusammen: dem Diplom-Kaufmann Wolfgang Bachmann, dem Stuttgarter Gynäkologen Dr. Friedrich Gagsteiger und dem Allgemeinmediziner Dr. Christoph Spellenberg aus Bad Urach.
Zu den Genossenschaftszielen von GNS gehöre auch die „Förderung und Verbesserung der medizinischen Versorgung in Baden-Württemberg“ (hier).
Diese Zieldefinition der Genossenschaft verursacht Störgefühle. Die „Förderung und Verbesserung der medizinischen Versorgung“, in welchem Bundesland auch immer, ist eine genuin staatliche Aufgabe. Die Politik allerdings verweigert sich dieser Aufgabe bisher. Die Folgen (weite Wege, lange Wartezeiten auf Termine etc.) sind insbesondere im ländlichen Raum schmerzlich spürbar. Ob das GNS mit seiner anspruchsvollen Zielformulierung auf dieses Versagen kompensatorisch reagiert oder sich eine Aufgabe anmaßt, die ganz offensichtlich die Möglichkeiten einer eingetragenen Genossenschaft übersteigt, sei dem Urteil des Lesers anheimgestellt.
Aber dieses politische Ziel von GNS beleuchtet den Nexus zu dem aktuellen Projekt „Patient digital“.
Warum sich die GNS-Akteure solchen Marketing-Modetrends wie der falschen (und in den GNS-Publikationen noch nicht einmal einheitlich gehandhabten) Rechtschreibung im Projektnamen unterwerfen, das habe ich nicht extra nachgefragt. Möglicherweise wurde dieser orthografische Regelverstoß auch von der Tatsache befördert, dass die Bezeichnung „Der digitale Patient“ schon vergeben ist. Unter dieser Bezeichnung versucht die Bertelsmann Stiftung, alle Bedingungen, Merkmale und Folgen der digitalen Speicherung von Patientendaten und die Bereitstellung dieser an definierte Beteiligte wissenschaftlich zu untersuchen. Die Tatsache, dass die Projektträger im Fall Landkreis Sigmaringen nicht im Kontakt mit der Bertelsmann Stiftung stehen, stellt das nächste Fragezeichen in den Raum. Auch das Informationsangebot der Bertelsmann Stiftung ist besser als im Fall „Patient digital“. Auf einem separaten Blog werden offene Fragen behandelt.
Als berufsspezifische Organisation bekannter als das GNS dürfte dem Patienten-Laien die Kassenärztliche Vereinigung (KV), in diesem Fall: Baden-Württemberg, sein. Die KV ist eine Körperschaft öffentlichen Rechts mit einem definierten gesetzlichen Auftrag. Dort, so betont KV-Pressesprecher Kai Sonntag mir gegenüber, sei man zwar über das Projekt „Patient digital“ informiert, nicht aber Projektbeteiligter. Sonntag beruhigt: „Das heißt aber nicht, dass wir mit den Akteuren nicht im Austausch stehen.“ Immerhin.
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Markus Bönig und jede Menge Unternehmen
Partner des GNS im Projekt „Patient digital“ und technischer Exekutor der Datenverwaltung ist die ebenfalls eher unbekannte Firma Vitabook GmbH mit ihrem nahezu charismatischen Chef Markus Bönig. Der redegewandte Unternehmer war es auch, der in der Informationsveranstaltung am 7. Dezember 2017 den handverlesenen Veranstaltungsteilnehmern seine hochlodernde Begeisterung für das Projekt minimalinvasiv zu implantieren verstand.
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Markus Bönig ist ein schillernder Unternehmens-Tausendsassa im Gesundheitsbereich und verfügt auch über Insolvenzerfahrung. Denn die von ihm gegründete SAETAS GmbH & Co. KG musste 2015 Insolvenz anmelden.
Aber es gibt noch eine ganze Reihe weiterer Unternehmen im Dunstkreis des alerten Norddeutschen: Neben der Vitabook GmbH (mit Sitz in Jesteburg Nähe Hamburg) ist das zum Beispiel die ApoNow GmbH (ebenfalls in Jesteburg). Erst vor Kurzem löste Thomas Engels den Firmengründer Bönig als geschäftsführenden Gesellschafter der ApoNow ab. Einen Interessenskonflikt zwischen den Aktivitäten von Vitabook zusammen mit „Patient digital“ und seinen Geschäftsinteressen bei ApoNow sieht Bönig nicht. Der Diplom-Kaufmann legt Wert darauf, dass ApoNow keine Versandapotheke sei. Der Zweck des Unternehmens und der dazugehörigen Webseite sei es, den Kontakt zwischen Patienten und Apotheke herzustellen. Überdies gehe es bei ApoNow nur um nicht verschreibungspflichtige Medikamente
Die Health Card GmbH, ein weiteres Bönig-Unternehmen am Firmensitz Jesteburg, ist eine 100-prozentige Tochter der Vitabook GmbH. Als Holding über dem Ganzen thront die haftungsbeschränkte Farmacon Invest UG mit einem irritierend bescheidenen Stammkapital von knapp über 1.000 Euro. Informationen zur Farmacon Invest UG findet man im Internet außer im Handelsregister keine. Die Liste der Gesellschafter (mit Stand Abruf im Handelsregister am 13.11.2017) weist auch eine Firma FertiMed Pharma GmbH aus, deren Geschäftsanteile den Gegenwert einer Stange Zigaretten unterlaufen. Das alles empfinde ich als ziemlich schräg. An der Vitabook GmbH selbst hält Farmacon Invest aber knapp 60 Prozent der Geschäftsanteile. Auf der Liste der Vitabook-Gesellschafter steht des Weiteren eine Obotritia Beteiligungs GmbH.
Hier schwirrt dem betriebswirtschaftlichen Laien, mir, schon der Kopf.
Auch die „Refugee Identification Card“ war ein Projekt von Vitabook, die finale Kritik der Datenschützer auf sich zog.
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Markus Bönig beantwortet alle Fragen
Aber: Markus Bönig beantwortet jede kritische Frage, sei es die nach der SAETAS-Insolvenz oder solche nach den diversen Unternehmensbeteiligungen. Und das tut er umfassend und gleichbleibend freundlich. Eine solche offene und transparente Reaktion ist bei so schmerzhaftem Nachhaken durchaus nicht die Regel.
Bönig geht sogar noch weiter: Auf meine Kritik hin, dass für die Vitabook GmbH, der es Ende 2015 auch nicht ganz so gut ging, im Dezember 2017 für das Geschäftsjahr 2016 im Handelsregister immer noch keine Zahlen hinterlegt sind, verspricht er zeitnahen Vollzug. Das ist kurz vor Ende der Frist am 31. Dezember 2017 allerdings kein Entgegenkommen, sondern gehört zu der Publizitätspflicht von Unternehmen. Bis zu meiner Recherche im Handelsregister für Vitabook ebenfalls nicht hinterlegt war die Erhöhung des Stammkapitals 2016 um drei Millionen Euro, eine Information, die mir vom GNS zugereicht wurde (bevor das Gespräch mit Markus Bönig stattfand).
Auch auf eine weitere Kritik reagiert Markus Bönig rasch: In seinem XING-Profil (Stand: 14.11.2017) hatte er noch als geschäftsführender Gesellschafter von ApoNow firmiert. Nicht zutreffend, wie wir schon gelernt haben. Unmittelbar nach unserem sehr ausführlichen Telefoninterview teilt mir der Jesteburger Unternehmer mit, diese Angabe bei XING korrigiert zu haben.
Das ist nicht die einzige Korrektur, die nach der Recherche Dritter nötig war, denn auch der im Internet zum Zeitpunkt des Telefoninterviews noch verfügbare Investmentvertrag für Vitabook auf dem Portal „Funder-Nation“ wurde (erst) nach unserem Gespräch aus dem Netz genommen.
Markus Bönig im Interview auf der Deutschen Partnerkonferenz von Microsoft Deutschland 2016.
In diesem Interview erklärt er die Vorteile des digitalen Gesundheitskontos.
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Die strahlende Attraktivität des Angebots
Die von der Politik losgelösten (organisatorisch, nicht finanziell!) Akteure bei „Patient digital“ sind also zumindest dem durchschnittlichen Patienten eher unbekannt und beeindrucken nicht übermäßig. Doch wenden wir den Blick ab von dem teils gereizten, teils entzündlichen, wenn nicht nekrotischen Gewebe des vielgestaltigen Unternehmensnetzes im Hintergrund und richten ihn auf das Projekt digitales Gesundheitskonto im Landkreis Sigmaringen selbst.
Bei dem Projekt „Patient digital“ steht der Patient gut beleuchtet im Mittelpunkt. Er soll die Hoheit über seine Daten (zurück)erlangen und erhält zumindest innerhalb des Projektes die exklusive Verfügungsgewalt darüber. Das versichern die Akteure glaubwürdig. Und entsprechend ist auch das System angelegt. Darüber hinaus soll „Patient digital“ aber auch den anderen Akteuren im Gesundheitssystem plausible Vorteile bieten und insgesamt die ärztliche Versorgung im ländlichen Raum für die Zukunft sicherstellen. Für die Ärzte – und dort besonders die Hausärzte – soll das Angebot administrative Vorgänge wie Rezeptanforderungen, Terminabsprachen, Überweisungen etc. vereinfachen und den Arzt entlasten.
Die insgesamt sieben Workshops zu dem Projekt, die von den System-Pionieren angeboten werden, sind all denjenigen zu empfehlen, die sich für dieses wichtige und zukunftsträchtige Thema interessieren. Dort wird das gesamte Konzept mit seinen vielfältigen Vorteilen für die diversen Zielgruppen – Patienten, Ärzte, Apotheker & Co. – umfassend, anschaulich und überzeugend erklärt.
Das Stichwort „Workshops“ gibt Gelegenheit zur Nagelprobe hinsichtlich der online verfügbaren Informationen über das Projekt. Aber wer die Webseite patient-digital.de mit den Suchbegriffen „Workshop“ oder „Informationsveranstaltung“ absucht, erzielt keine Treffer und wird sich mithin dort nicht informieren können, wann und wo weitere Veranstaltungen wie die zitierte am 7. Dezember 2017 stattfinden. Die Suche nach diesen Stichworten läuft auch auf Vitabook ins Leere.
Dieser Mangel an online verfügbaren Informationen ist symptomatisch für das Projekt. So brillant, anschaulich, informativ, unterhaltsam und motivierend die Veranstaltungen sind, so dürftig und mager sind die wenigen soliden Webseiten-Informationen, die noch dazu in sprachlich fehlerhaften Texten stecken. Letzteres gilt jedoch nur für patient-digital.de [Stand: 16.12.2017]. Die Texte auf Vitabook sind okay.
Die Tatsache, dass der Patient dort durchgehend geduzt wird, entspricht den aktuellen Werbetrends, mag aber gerade Ältere eher irritieren. Dabei sind es gerade diese älteren Patienten sowie die chronisch Kranken, für die das Projekt besonders attraktive Vorteile bietet.
Die nächste Irritation: Auf der Vitabook-Webseite (nicht auf patient-digital.de) finde ich ein gut erklärendes Video. Im Mailkontakt mit Markus Bönig kommt dann heraus: Es gibt inzwischen über 30 Firmenvideos, die das Thema digitales Gesundheitskonto und verknüpfte Themengebiete behandeln. Einige dieser Videos habe ich hier in diesen Artikel eingebunden. Ich frage mich aber, warum sie nicht auf patient-digital.de, der spezifischen Internetadresse für das Projekt im Landkreis Sigmaringen, zu finden oder mindestens verlinkt sind? Verlangen die Akteure und insbesondere das GNS von den Patienten im Pilotprojekt-Landkreis, dass sie sich diese Informationen alle selbst zusammensuchen?
Hyperventilation zum Thema Datenschutz
Eine Aufregung im Kontext von „Patient digital“, die nach meinem heutigen Wissensstand auch vermeidbar gewesen wäre, ist die Chose mit dem Datenschutz. Selbstverständlich ist Datenschutz das Erste, was dem Betroffenen im Kontext mit Datenspeicherung, wie sie hier vorgesehen ist, einfällt. Eine SaSe-Presseanfrage an den Landesdatenschutzbeauftragten Baden-Württemberg, Dr. Stefan Brink, am 13. November 2017 zu der Frage, ob er in das Projekt involviert sei, ergab diese Auskunft:
Nein. Wir haben erst durch die Pressemitteilung des Ministeriums für Ländlichen Raum und Verbraucherschutz Baden-Württemberg (MLR) vom 12. Mai 2017 (Überschrift: Minister Peter Hauk MdL: „Patientenkarte.Online soll einen spürbaren Mehrwert für Ärzte und Patienten im Ländlichen Raum bringen“) von diesem Modellprojekt erfahren. Darauf hat sich Herr Dr. Brink unverzüglich an das MLR gewandt und um Informationen zu den datenschutzrechtlichen Aspekten dieses Vorhabens sowie um Mitteilung gebeten, ob und gegebenenfalls wie dabei die Einhaltung der datenschutzrechtlichen Anforderungen sichergestellt ist.
(Presseauskunft des Landesdatenschutzbeauftragten Baden-Württemberg an Karin Burger vom 14.11.2017)
Eine weitere Frage von mir war:
Bestehen seitens des Landesdatenschutzbeauftragten Baden-Württemberg noch immer die in früheren Veröffentlichungen (Stuttgarter Zeitung 30.05.2017) genannten Bedenken zur Datensicherheit oder wurden diese ausgeräumt? Wenn ja: Welche Argumente oder Maßnahmen im Modellprojekt räumen datenschutzrechtliche Bedenken des Landesdatenschutzbeauftragten aus?
Dazu erklärt der baden-württembergische Datenschützer:
Wir können, auch nach Einholung schriftlicher Äußerungen des MLR und des sog. Projektträgers sowie nach eingehender Besprechung mit den Beteiligten, leider noch nicht erkennen, dass alle datenschutzrechtlichen Anforderungen eingehalten werden. Wir erwarten weitere Informationen seitens der Beteiligten. Sobald uns diese vorliegen wird sich u. a. zeigen, ob unser Rat berücksichtigt wurde und die datenschutzrechtlichen Fragen geklärt sind.
(ibid.)
Dieser Kenntnisstand von Nichteinbindung und datenschutzrechtlichen Bedenken war es dann wohl auch, der die Schwäbische Zeitung zu ihrem Artikel vom 23. November 2017 veranlasste.
Erst in der Nachfrage bei Vitabook kommt heraus: Der Datenschutz wird beim Projekt „Patient digital“ nach Ansicht von Markus Bönig gar nicht tangiert, weil es sich um eine sogenannte Auftragsdatenspeicherung handele. Das bedeute: Der Patient beauftragt diese Speicherung und habe zu jedem Zeitpunkt die volle Kontrolle darüber – bis hin zur gegebenenfalls gewünschten Datenlöschung. Und für diese Rechtsauffassung kann Markus Bönig auf ein Gutachten des Bundesgesundheitsministeriums verweisen, das seine Angaben stützt.
Trotzdem und nach der publizistischen Aufregung zu diesem Aspekt erreichen mich jetzt neue Signale der Akteure:
[…]
Angestoßen durch unser Treffen mit dem Landesdatenschutzbeauftragten in Stuttgart, haben wir unsere datenschutzrechtliche Einschätzung weiterentwickelt. Wir beziehen dabei explizit die Empfehlungen des Ethikrats sowie die zukünftigen Rahmenbedingungen der DS-GVO bereits heute mit ein.
Wir haben uns dazu entschieden, die Datenschutzbehörden intensiver einzubeziehen und bringen dies mit diesem Schreiben so zum Ausdruck. Wir sind auf dieser Grundlage bereits konstruktiv im Dialog mit mehreren Datenschutzbehörden, um sinnvolle Verbesserungen für Bürger gemeinsam zu entwickeln. Wir ziehen da gemeinsam an einem Strang – wir arbeiten an der Verbesserung auch der Patienten-Sicherheit des einzelnen Bürgers.
Interessant könnte für Sie auch dieser Artikel auf www.mednic.de sein. Hier wird die Gesamtthematik Gesundheitsakte sehr schön dargelegt.
(Vitabook Markus Bönig am 06.12.17 in einer Informationsmail an die SaSe-Redaktion; Hervorhebg. SaSe)
Die – fett hervorgehobene – Entscheidung, die Datenschutzbehörden jetzt intensiver mit einzubeziehen, erfolgte aber erst nach dem Sturz des Kindes in den auch so schon gut gefüllten Brunnen.
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Mein Senf
Selbst wer sich nur kurz mit dem Projekt des digitalen Gesundheitskontos beschäftigt, erkennt dessen offensichtliche Vorteile für alle Beteiligten und dessen strukturelle Funktion für die Sicherstellung der medizinischen Versorgung gerade im ländlichen Raum. Das ist gar keine Frage. Eine digitale Gesundheitsakte wird und muss früher oder später kommen; so oder so.
Meine Bedenken richten sich eher gegen die Akteure bei dem Projekt für den Landkreis Sigmaringen und dort ganz besonders gegen das GNS, dem es meiner Meinung nach an Professionalität, Kommunikationskompetenz und den notwendigen Marketing-Strategien zu fehlen scheint. Das professionelle Gefälle zwischen den beiden Akteuren GNS und Vitabook ist offensichtlich. Während Markus Bönig etwa jede Fragemail postwendend beantwortet, gestaltet sich die Kommunikation mit dem GNS weitaus zäher.
Interessierte Patienten im Landkreis Sigmaringen müssen sich die Informationen – speziell die leichter konsumierbaren über Erklär-Videos – erst mühsam zusammensuchen. Die Webseite patient-digital.de ist im aktuellen Status eher eine Zumutung, auch wenn mir Markus Bönig mitteilt, dass sie nach meiner herben Kritik an der Textqualität jetzt überarbeitet werden soll. Nachbesserung also auch hier? Wie schon beim Thema Datenschutz? Dieses Nacharbeiten beunruhigt mich, denn es betrifft ja nur Themenfelder, die dem Laien schon zugänglich sind. Wie viel Nachbesserung ist dann eventuell in den Bereichen notwendig, die Expertise erfordern? Eine kritische, gar wissenschaftliche Begleitung – im Idealfall zum Beispiel mit der Bertelsmann Stiftung – zu diesem Projekt gibt es nicht. Es guckt also auch keiner hin (noch nicht einmal die Regionalpresse), ob die 150.000 Euro Steuergelder hier sinnvoll investiert werden.
Die Akquise für das Projekt im Landkreis soll, so berichtet es Markus Bönig im Interview und so wurde es auch auf der Informationsveranstaltung in Sigmaringen betont, primär über die Ärzte und Apotheker erfolgen. Das bedeutet: Der Arzt oder Apotheker empfiehlt dem Patienten das digitale Gesundheitskonto und der richtet es sich dann ein. Das ist in meinen Augen ein Widerspruch, wenn es Markus Bönig und dem GNS doch angeblich so um die Autonomie und Mündigkeit des Patienten zu tun ist. Wünschenswerter erschiene mir, so praxisfern das sein mag, dass Patienten selbst die Initiative ergreifen und von dieser jetzt ja schon mit öffentlichem Segen (Bezuschussung durch das baden-württembergische Landwirtschaftsministerium) versehenen Möglichkeit Gebrauch machen. Nicht aber auf Ansage derer, die schon viel zu lange die De-facto-Informationsmacht über Patientendaten innehaben.
In der Stellungnahme gegenüber der Schwäbischen Zeitung zum Thema Datenschutz verweist Bönig auf den Paradigmenwechsel, der bei „Patient digital“ Widerstände provoziere:
Aus Sicht von Markus Bönig, Vitabook-Geschäftsführer, streuen die „Bewahrer des Gesundheitssystems“, wie Bönig die Datenschutzbehörde nennt, Unsicherheiten. Vitabook werde die erforderlichen Gutachten vorlegen, sämtliche Zweifel an der Rechtssicherheit zerstreuen und die Auffassung der Behörde widerlegen. Bönig findet es unfair, dass die Behörde das Projekt öffentlich in Misskredit bringe, nur weil sie „im Vorfeld nicht mit einbezogen worden ist“.
(Schwäbische Zeitung 23.11.17: „Digitales Gesundheitskonto: Datenschützuer [sic] hat noch Bedenken“)
Dieser jammerige Ton („unfair“) und das Einparken in die Opferrolle passt nicht zu dem Bönig, mit dem ich gesprochen habe. Eine solche Reaktion von einer bei diesem Thema maßgeblichen Behörde wäre vorhersehbar und deshalb vermeidbar gewesen. Damit sind wir wieder beim Thema Professionalität.
Bedenken habe ich auch, inwieweit sich Ärzte auf Daten verlassen und diese abfragen werden, die in der ausschließlichen Verwaltung von Patienten liegen. Von denen lässt sich schwer vorhersagen, mit welcher Akribie und Aktualität sie diese Daten pflegen.
Bei der Informationsveranstaltung in Sigmaringen kam des Weiteren heraus, dass zumindest einzelne Ärzte Probleme mit dem Gedanken von Patientensouveränität haben, die das digitale Gesundheitskonto auch ermöglichen würde. Ein Arzt wies nahezu empört die Vorstellung zurück, ein Patient könne selbst entscheiden, ob er an einen Facharzt überwiesen werden möchte oder nicht. Treffer: Das sind exakt die Trigger-Punkte von „Patient digital“.
Ein Kreis-Apotheker antwortete auf meine Frage, woher eigentlich der mündige Patient kommen soll, den das Projekt anspricht und der seine Datenfäden souverän in der Hand behält, mit beredtem Schweigen. Wir konnten uns dann darauf einigen, dass ich diese Frage zurückziehe. Jede „Mündigkeit“ und Souveränität ist dort ausgeschlossen, wo noch nicht einmal dieselbe Sprache gesprochen wird.
Fakt ist: GNS und Vitabook stürzen sich engagiert in exakt den Abgrund, den das gesundheitspolitische Versagen aufgerissen hat. Ist es dann fair, die Akteure mit ihrem mehr leidenschaftlichen als professionellem Engagement aufgrund ihrer ganz offensichtlichen Überforderung niederzuschreiben? Die Frage wurde in dem Moment obsolet, als der Startschuss für die 150.000 Euro Steuergelder des LMR Baden-Württemberg fiel.
Satirequalitäten erhält „Patient digital“ im Erfolgsfall. Der tritt ein, wenn sich das von den Akteuren selbst gezeugte ideologische Paradoxon erfüllt, dass der „mündige“ Patient auf Ansage seines Arztes oder Apothekers sein digitales Gesundheitskonto einrichtet.
Und nicht zuletzt ist noch ziemlich viel Platz im Projektboot. Die Krankenkassen etwa sind bisher auch nicht involviert. Der Datenschutz sucht noch nach einer Einstiegsmöglichkeit. Und die Ärzte sind bisher nicht in relevanten Quantitäten am Ufer zu erkennen.
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