TS150/20: 36 Bürgermeister aus Baden-Württemberg kritisieren Corona-Beschlüsse

Aha: Bemerkenswerter Weise und in kreischender Differenz zu dem affirmativen Statement des Deutschen Städtetages n. e. V. begehren nun „mehr als 30“ Bürger- und Oberbürgermeister*innen aus Baden-Württemberg gegen die neuen Corona-Bestimmungen und den geplanten „Lockdown light“ auf. Nicht unbedingt eine Empfehlung für diese Kritikergruppe ist die Tatsache, dass sich auch der notorische Krawallbruder Boris Palmer, Oberbürgermeister von Tübingen, in deren Reihen findet.

Die 36 Kritiker (offensichtlich ist die Unterzeichner-Liste noch offen; deren Anzahl wird divergierend zitiert; ich zähle aktuell 36) haben sich in einem offenen Brief an Ministerpräsident Winfried Kretschmann gewandt. Sie warnen davor, die Beschlüsse von Bund und Land in Form eines „allzu pauschalen Lockdowns“ umzusetzen. Und sie hinterfragen den Sinn der ab Montag in Kraft tretenden Schließungen.

Bemerkenswert an dem dazugehörigen SchwäZ-Artikel ist wieder mal die Tatsache, dass der offene Brief selbst nicht verlinkt oder sonstwie als leicht zugängliches Originaldokument bereitgestellt wird. Man begreift es nicht!

Wer sich für das Originaldokument interessiert, der wird erst bei weiterer Recherche und beim Fund des SchwäZ-Artikels „Friedrichshafens OB Brand nimmt Stellung zum Offenen Brief gegen Corona-Beschlüsse“ fündig. Dort (und in der Berichterstattung anderer Zeitungen) ist der Wortlaut angegeben.

Nachstehend der offene Brief im Original. Bei den unterzeichnenden (Ober-)Bürgermeister*innen habe ich jene fett gedruckt, die zumindest nahe den SaSe-Berichtsgebieten herrschen. Von den Bürgermeistern, die SaSe regulär besenft (z. B. Langenargen, Ummendorf, Ochsenhausen, Ostrach, Salem, Überlingen etc.), ist kein einziger bei den Unterzeichnern dabei. Wäre hinzuzufügen: natürlich nicht! (Sonst wären es vermutlich keine Senf-Gemeinden!)

Auffallend ist der extrem hohe Anteil von Frauen, die den offenen Brief unterzeichnet haben: 15! Das sind 41 Prozent. In der Liste unten sind sie fett und rosa markiert. Wenig überraschend: Eine Oberbürgermeisterin taucht in der Liste nicht auf!
(Zu dem verstörend geringen Frauenanteil in diesem  nicht-prekären Job – nur 80 Frauen bei über 1.000 hauptamtlichen Bürgermeistern – siehe hier.)

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Parteiübergreifender Appell von mehr als 30 Oberbürgermeistern, Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern an Ministerpräsident Kretschmann:

Das Leben in den Städten schützen

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Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,

Wir [sic] wissen, dass die Lage ernst ist und wir der weiteren Ausbreitung des Corona-Virus entschieden entgegentreten müssen. Hierbei haben Sie wie in der Vergangenheit unsere volle Unterstützung. Wir können aber nur erfolgreich sein, wenn wir auch die Bürgerinnen und Bürger vom Sinn der Maßnahmen überzeugen können. Das fällt uns bei den gestern in Berlin gefassten Beschlüssen schwer.

Wir fragen uns, nach welchen Kriterien die Bereiche ausgewählt wurden, die nun komplett geschlossen werden sollen. Theater, Oper, Kino, Gastronomie, Hotellerie und Cafes [sic] haben gute Hygienekonzepte etabliert und sind als Treiber des Infektionsgeschehens nach unserer Kenntnis von eher geringer Bedeutung. Es ist für uns nicht ersichtlich, dass durch den kompletten Lockdown dieser Bereiche das Tempo der Pandemie ausreichend gebremst werden könnte.

Es scheint, als liege der Auswahl der Schließungsbereiche die Annahme zugrunde, dass diese am ehesten entbehrlich seien. Dieser Auffassung treten wir entgegen. Kunst, Kultur und Gastronomie machen das Leben in unseren Städten wesentlich aus. Sie einfach abzuschalten, gefährdet auf Dauer Bürgersinn, Zusammenhalt und Lebensgeist der Stadtgesellschaften. Wir sehen die Gefahr, dass die Maßnahmen damit das gefährden, was wir zuallererst brauchen, um die Pandemie durchzustehen.

Das gilt um so [sic] mehr, als wir zwar lesen, dass die Schließungen bis zum Ende des Monats befristet sein sollen, darauf aber nicht vertrauen können. Im Gegenteil. Es ist zu befürchten, dass die Pandemie durch diese sektoralen Eingriffe so wenig gebremst wird, dass sie bis zum Frühjahr verlängert werden müssen. Das hätte gravierende Strukturbrüche zur Folge. Allein mit Geld kann man Unternehmergeist, Kreativität und Leistungswillen nicht erhalten. Dauerhafte Abwertung und Untätigkeit wird viele zum Aufgeben treiben. Was dadurch zerstört wird, ist auf lange Zeit nicht mehr wiederherzustellen.

Aus diesem Grund bitten wir Sie, die Umsetzung der Beschlüsse in Landesrecht nochmals auf den Prüfstand zu stellen. Wir sind uns im Klaren, dass Baden-Württemberg keine völlig andere Linie fahren wird. Aber wir hielten es für angemessen, dem Infektionsschutz bei der Definition der Maßnahmen einen höheren Stellenwert zu geben und von gänzlich abstrakten Verboten Abstand zu nehmen. Beispielsweise ist Gastronomie mit Decken oder Heizstrahlern an der frischen Luft nach unserer Meinung völlig unbedenklich. Der Besuch einer Kunstausstellung oder einer Theatervorstellung kann durch weiter verschärfte Besucherzahlgrenzen, Masken und Abstände sicher gestaltet werden.

Wir bitten Sie, diese Differenzierungen nochmals zu erwägen, bevor ein allzu pauschaler Lockdown angeordnet wird.

Mit freundlichen Grüßen

OB Richard Arnold, Schwäbisch Gmünd
OB Dr. Pascal Bader, Kirchheim unter Teck
OB Stefan Belz, Böblingen
OB Andreas Brand, Friedrichshafen
OB Michael Bulander, Mössingen

OB Ulrich Fiedler, Metzingen
OB Johannes Fridrich, Nürtingen
OB Bernd Häusler, Singen
OB Thomas Keck, Reutlingen
OB Matthias Klopfer, Schorndorf
OB Klaus Konzelmann, Albstadt
OB Michael Lang, Wangen im Allgäu
OB Julian Osswald, Freudenstadt
OB Boris Palmer, Tübingen
OB Helmut Reitemann, Balingen
OB Thilo Rentschler, Aalen
OB Michael Scharmann, Weinstadt
OB Norbert Zeidler, Biberach
BM Tobias Benz, Wyhlen

BM Marcus Ehm, Sigmaringen
BM Meike Folkerts, Titisee-Neustadt

BM Birgit Förster, Niefern-Öschelbronn
BM Janette Fuchs, Todtmoos
BM Philipp Hahn, Hechingen
BM Lisa Hengstler, Gütenbach
BM Franziska Kenntner, Mehrstetten
BM Dagmar Kuster, Hettingen
BM Diana Kunz, Zaberfeld
BM Petra Müller-Vogel, Gaiberg,
BM Daniela Paletta, Biberach (Baden)
BM Sarina Pfründer, Sulzberg
BM Sabine Schwaiger, Aglasterhausen
BM Antonia Walch, Sternenfels
BM Monica Wieland, Gutenberg-Hürben
BM Sybille Würfel, Maisch
BM Helga Wössner, Mühlenbach

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Nebenerkenntnis: Auch 36 Oberbürger- und Bürgermeister*innen kriegen keinen fehlerfreien oder wenigstens rechtschreibfehlerarmen Brief auf die Kette.

Die Kritik an den neuen Maßnahmen ist verständlich argumentiert und dürfte dem gesunden Menschenverstand einer schwer zu quantifizierenden Anzahl von Bürgern entsprechen; auch meinem! Fragt sich dann nur, warum dann „nur“ 36 Verwaltungsoberhäupter reklamieren und appellieren?
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[Aktualisierung 02.11.2020 – falsche Links korrigiert, falscher Bezug Satzung Städtetag BW etc.]
Auffallende Differenz zur Bewertung des
Deutschen Städtetages
Ein durchgehendes Nebenthema dieses Blogs sind die kommunalen Interessensverbände – schwerpunktmäßig für unseren regionalen und ländlichen Bereich der Gemeindetag Baden-Württemberg (GTBW). Auffallend an diesen Verbänden ist deren – den meisten Bürgern unbekannte – Rechtsform als eingetragener Verein. Als solcher entzieht er sich sowohl dem Informationsfreiheitsgesetz wie den für Behörden geltenden Verpflichtungen der Landespressegesetze. Es fehlt jede externe Kontrolle. Der GTBW ist nicht einmal gemeinnützig. Und er ist komplett intransparent. Guckst du hier!

Auch der Deutsche Städtetag ist „nur“ ein (nicht eingetragener!) Verein (Quelle)! Die Mitglieder sind 16 Mitgliedsverbände und 13 außerordentliche Mitglieder (Quelle).

Der Deutsche Städtetag hatte schon am Mittwoch, dem Tag der neuen und einschneidenden und für viele nicht mehr nachvollziehbaren Corona-Verordnungen, vorauseilend verkündet, die neuen Maßnahmen seien „hart, aber richtig“.

Auszug aus den Verlautbarungen des Präsidenten des Deutschen Städtetages Bernhard Jung:

Die Städte halten die verschärften Maßnahmen von Bund und Ländern für hart, aber richtig, um den rasanten Anstieg der Corona-Infektionen abzubremsen. Das ist ein klares politisches Signal, das wir jetzt brauchen. Es ist besser, jetzt entschlossen zu handeln, als später mit Versäumnissen zu hadern. Das vorübergehende Runterfahren der Kontakte auf das Nötigste ist schmerzhaft. Es verändert das Miteinander in den Städten spürbar, weil das öffentliche Leben weitgehend ausgesetzt ist. Aber wir müssen jetzt so klar vorgehen, um die Gesundheit von Vielen zu schützen und einen vollständigen Lockdown zu vermeiden.
(Deutscher Städtetag nicht eingetragener Verein, Pressemitteilung am 28.10.2020: „Maßnahmen sind hart, aber richtig“; Hervorhebg. K. B.)

An den Verlautbarungen der kommunalen Spitzenverbände grundsätzlich irritierend ist deren nahezu reflexhafte Konformität mit den Parolen der Regierung und der in den Ländern regierenden Parteien. Zu welchen Exzessen das führt, hatte ich für den GTBW hier schon einmal mit Zitaten belegt.

Der jetzt beschlossene „Wellenbrecher-Lockdown“ ab kommenden Montag (02.11.2020) ist eben alles andere als ein „klares politisches Signal“. Ganz im Gegenteil: Bisher habe ich noch niemanden gefunden, der mir die Klarheit dieser Verzweiflungstat auf Regierungsebene erklären könnte.

Von den vielen Widersprüchlichkeiten dahinter mal ganz abgesehen: Auf der einen Seite könne man bei bis zu 70 Prozent der Corona-Fälle die Infektionsquelle nicht mehr rückverfolgen (Quelle), weiß aber seltsamerweise trotzdem, dass die meisten Infektionen im privaten Bereich erfolgen. Und weil wie auch immer diese Erkenntnis besteht, schließt man dann die gesamte Hotellerie, Gastronomie und Kultur, die definitiv nicht dem privaten Bereich zuzuschlagen sind.

Das versteht kein Mensch mehr – selbst wenn er sich meilenweit von staatsnagenden „Querdenkern“ fernhält.
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Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

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