TS42/19: Regionalplan Bodensee-Oberschwaben: Unhinterfragte Bedarfe zwingen zur Quadratur des Kreises

Keine Einleitung. Dieser Senf setzt die Berichterstattung und Kommentierung der von den drei Salemer Gemeinderatsfraktionen SPD, FDP und CDU im 30. April 2019 im Dorfgemeinschaftshaus Mimmenhausen organisierten Veranstaltung fort, die in TS40/19 begonnen wurde.

Thema der Veranstaltung und der aktuellen heftigen Diskussionen in Salem ist die Fortschreibung des Regionalplans Bodensee-Oberschwaben. Die Kritik an den bisher vorliegenden Entwürfen (!) entzündet sich vor allem an der geplanten Zuweisung von 28 Hektar teilweise besonders wertvoller Böden für ein Gewerbegebiet in Salem-Neufrach. Ein weiterer Diskussions- und Streitkpunkt ist die Aufwertung der Kommune zum „Unterzentrum“ (Begriff im System der Raumordnung) und damit einhergehend ein neuer Entwicklungsschwerpunkt „Industrie und Gewerbe“. Weitere Erklärung der Inhalte hier.

Unsere Zeit sei schnelllebig. Kann man wohl sagen. Im senfproduzierenden Gewerbe hat man kaum die notwendige Muße, eine so komplexe und informative Veranstaltung wie die in Mimmenhausen zu analysieren, relevante Aussagen der Entscheidungsträger herauszuarbeiten und Widersprüche zusammenzustellen. Denn inzwischen ist schon wieder Neues und Berichtenswertes mit Relevanz für den designierten Industriestandort passiert. Zum einen tauchte jetzt eine Stellungnahme der Freien Wähler in Salem auf, die sich – für mich überraschend – ganz klar gegen die bisherigen Pläne im Regionalplan ausspricht (Link und Zitate in TS41/19).


Dramatisches Problemerkennungsgefälle: Konstanz ruft den Klima-Notstand aus
Zum anderen: Breaking News am 3. Mai 2019 in allen / deutschen / Medien war eine völlig überraschende Meldung aus Konstanz. Dort hat der Gemeinderat einstimmig (!) den sogenannten Klimanotstand ausgerufen. Konstanz ist damit die erste deutsche Stadt, die dem Beispiel so bekannter Metropolen wie Vancouver, Oakland, London und Basel folgt. Das eher formal relevante Kriterium „Klimanotstand“ verlangt, dass künftig alle Gemeinderatsbeschlüsse unter einen Klima-Vorbehalt gestellt werden.

Von solchen innovativen Meilensteinen mit Leitplankenfunktion ist man sowohl im Regionalverband Bodensee-Oberschwaben wie in Salem so weit entfernt, wie es die genannten Entfernungsmesser angeben. Dabei ist das Thema hier wie dort dasselbe: Ein Wachstum wie bisher besonders in den westlichen Industrienationen praktiziert verträgt dieser Planet nicht mehr. *


Südkurier-Artikel verschweigt alle relevanten Inhalte

Des Weiteren liegt inzwischen der Südkurier-Artikel zu der Veranstaltung  vor. Hatte ich in TS40/19 noch meine Witze darüber gemacht, wie es den Kollegen der regionalen Monopolpresse wohl gelingen werde, die Komplexität der Veranstaltung in die ihnen von den Redaktionen (üblicherweise) vorgegebenen 70 Zeilen zu pressen, ist mir das Lachen vergangen bei der Lektüre des Südkurier-Artikels „Podium zur Gewerbeentwicklung: Laut Regionalverband sollen sich Betriebe weiter entwickeln können“.

Der Artikel straft mich Lügen, denn es waren nicht nur mehr als 70 Zeilen, es war glatt das Doppelte. (Meine Strategie  hat also gefunzt!)

Trotz dieser nahezu exzesshaften Zeilenfreiheit schafft es der Kollege dann aber, nicht eine (in Zahlen: 1) wirklich interessante Aussage der Referenten oder gar Bruchstücke der emotional aufgeladenen Diskussion zu berichten. Auf dem Facebook-Account von Grünes Salem wurde ob all dieser Lücken schon spekuliert, ob der Südkurier-Knecht womöglich nur den ersten Teil der Veranstaltung erlebt habe. Auch ich kann dieser Spekulation klar widersprechen: Der zwischenmenschliche Eiseshauch am gemeinsam besetzten Pressetisch dauerte bis zum Ende der Veranstaltung an.

Im Südkurier-Bericht fehlen die wichtigen und häufig wiederholten Bekenntnisse von Wilfried Franke, Direktor des Regionalverband Bodensee-Oberschwaben, dass seine Organisation vor unlösbaren Zielkonflikten stehe und sich der Aufgabe gegenübergestellt sehe, die Quadratur des Kreises zu leisten: „Wir stoßen an Grenzen.“

Von den in der Veranstaltung aufgetauchten Widersprüchen kein Wort im Südkurier-Artikel. Der Behauptung einzelner Referenten, Salem sei ein Industriestandort, stellte Moderator Arnim Eglauer (SPD) zum Beispiel das Faktum gegenüber, dass die Einnahmen aus der Einkommensteuer in Salem das Gewerbesteuer-Aufkommen deutlich übersteigen. Das sind Widersprüche, die unbedingt in einen Bericht über die Veranstaltung gehören.

Es kam noch mehr heraus: Wie hoch die Flächenbedarfe der in Salem ansässigen Betriebe für die nächsten Jahrzehnte tatsächlich sind, wurde gar nicht erhoben. Die angenommenen Bedarfe beruhen auf Schätzungen und Zahlen des Statistischen Landeamtes sowie einer Stimmungsumfrage der IHK.

Außerhalb der Veranstaltung erfahre ich von einem anderen Politiker in Salem, dass es noch nicht einmal statistische Angaben darüber gibt, wie viele Einwohner in Salem wohin/woher aus- und einpendeln.
Hausbau ohne Architekt?

Am Dienstagabend war es das Verdienst von Moderator Arnim Eglauer, per Nachfrage an Franke, die windige Faktenbasis der Planung offenzulegen. Er zwang den Verbandsdirektor mit den 37 Jahren Raumplanungserfahrung zu dem wörtlichen Eingeständnis, dass es sich bei den Zahlen um „Näherungswerte“ handele.
Hausbau „pi mal Augenstern“?
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Die üblichen Sorgfaltspflichten, wie sie jedem Häusle-Bauer einschlägig bekannt sind, scheinen bei der Regionalplanung nicht so die Rolle zu spielen? Die als absolut gesetzten Bedarfe fallen vom Himmel und sind in wichtigen Bereichen nur "Näherungswerte". In Salem gibt es noch nicht einmal valide Daten zur Anzahl der Ein- und Auspendler. Für die Kommune, die neuerdings und faktenwidrig als "Industriestandort" ausgerufen wird, existiert noch nicht einmal ein aktuelles "Leitbild" für die Entwicklung. Das letzte seiner Art sei 18 Jahre alt, wie mir ein Salemer Politiker erklärt. Foto: Michael Grabscheit / pixelio.de

Die üblichen Sorgfaltspflichten, wie sie jedem Häusle-Bauer einschlägig bekannt sind, scheinen bei der Regionalplanung nicht so die Rolle zu spielen? Die als absolut gesetzten Bedarfe fallen vom Himmel und sind in wichtigen Bereichen nur „Näherungswerte“. In Salem gibt es noch nicht einmal valide Daten zur Anzahl der Ein- und Auspendler. Für die Kommune, die neuerdings und faktenwidrig als „Industriestandort“ ausgerufen wird, existiere noch nicht einmal ein aktuelles „Leitbild“ für die Entwicklung. Das letzte seiner Art sei 18 Jahre alt, wie mir ein Salemer Politiker erklärt.
Foto: Michael Grabscheit / pixelio.de

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Der lange und anstrengende Abend in Mimmenhausen verhalf einem weiteren bedeutenden Widerspruch zum Comingout. Auf der einen Seite behauptete Regionalplaner Franke, dass die Annahmen und Schätzungen der letzten Regionalplanung 1996 sich überwiegend als zutreffend herausgestellt hätten. Auf der anderen Seite berichtete der IHK-Vertreter Wolfgang Heine, dass sich in der Umfrage bei den Salemer Gewerbebetrieben eine deutliche und seit 2007 wachsende Unzufriedenheit mit dem lokalen Wohnungsangebot zeige.
Wie passt denn das zusammen?

Auch eine der wichtigsten an diesem Abend gestellten und in der Diskussion leider nicht wieder aufgegriffenen Fragen kommt im Südkurier-Bericht nicht vor. Die engagiertesten Kritiker am jetzigen Stand des Planungsentwurfs für Salem rekrutieren sich aus den Reihen des Aktionsbündnis Grünzug Salem. Dazu gehören auch die Fraktionsmitglieder der Gemeinderatsfraktion Grüne Offene Liste (GOL). Das Aktionsbündnis hatte am 18. April 2019 in einem offenen Brief an Bürgermeister Manfred Härle die Parole ausgegeben: „Die Wachstumspolitik ist eine Politik des vergangenen  Jahrhunderts“.

Ohne Namensnennung oder Quellenangabe griff IHK-Heine die für ihn und andere Befürworter der bisherigen Entwicklungskonzepte offensichtlich hochprovokante These auf. Er frage „diejenigen, welche meinen, wir brauchen kein Wachstum mehr“, woher denn dann die für infrastrukturelle Investitionen notwendigen Gelder kommen sollen.

Jeder politisch Interessierte wird die Antwort kennen. Und sie liegt auf der Hand. Leider wurde sie in Mimmenhausen in der Diskussion nicht wieder aufgegriffen und auch nicht beantwortet. Und vom Südkurier gleich ganz unterschlagen.

Mindestens eine Behauptung im Südkurier-Artikel schrappt haarscharf an der Unwahrheit vorbei. Das Thema „Ausweitung des Salemer Gewerbegebiets“ wurde (von den Referenten) nicht „eher unter wirtschaftlichen Aspekten beleuchtet“, sondern ausschließlich. Als gäbe es die gesamte Klimaproblematik und –diskussion gar nicht!

Auch das interessante Stichwort „Stimmungsdemokratie“ fehlt im Südkurier-Artikel. Es kam in einem reichlich wirren Bekenntnis vor, das CDU-Gemeinderat Franz Jehle am Ende der Veranstaltung kontext- und erklärungslos mit von den Lippen sprühender Leidenschaft in den Saal regnen ließ. Er wolle nicht in einer solchen Stimmungsdemokratie leben, gab der CDU-Mann ohne weitere Definitionen oder Erklärungen den inzwischen völlig erschöpften Bürgern mit auf den Weg.

Eine klare Begriffserklärung zu dem Begriff „Stimmungsdemokratie“ gibt es nicht. Google nennt aber Verwendungsbeispiele.

Man kann nur spekulieren, was Jehle meint und was nahtlos wieder zu dem angegebenen Zweck der Veranstaltung zurückführen würde: Die sollte über das Thema „informieren“. In der Regel ist es dann der politische Gegner, der das mit seinen Veranstaltung und Veröffentlichungen eben nicht tut.

Diese Betrachtungsweise ist auch hübsch problematisch. Sie pinkelt der demokratischen Streitkultur auf die Schuhe.

In der Diskussion, die den viel zu langen Referaten folgte und sehr engagiert verlief, platzten immer wieder die grundlegenden Widersprüche zwischen den insbesondere von Franke als absolut gesetzten Bedarfen und dem Faktum der dafür nur noch begrenzt zur Verfügung stehenden Flächen auf. Moderator Eglauer und GOL-Gemeinderat Ralf Gagliardi gerieten aneinander. Letztgenannter hatte Eglauer für eine falsche Angabe kritisiert. Der reagierte mit „Ich habe einen Fehler gemacht und Sie wissen es auch nicht besser.“ Sehr schlagfertig, aber wenig souverän für einen Moderator.
Die Nerven in Salem scheinen blank zu liegen?

Irgendwelche inhaltlichen Lösungen für die im Saal und in der Region brütenden Konflikte zeichneten sich nicht ab. Aber Franke verwies darauf, dass die Ergebnisse der Kommunalwahl am 26. März 2019 unter Umständen Einfluss auf den Regionalplan nehmen werden.

Auch wenn Franke mit seiner penetrant wiederholten Anmerkung, Regionalplanung sei kein Wunschkonzert, bei mir und vielleicht vielen anderen den Eindruck erweckte, dass dieses entscheidende Planungsinstrument demokratischer Mitwirkung entzogen sei, lässt der Zeitplan noch Raum für die Hoffnung, dass dem nicht so ist. Die Offenlegung des endgültigen Entwurfs erfolge voraussichtlich Juni 2019. Rechtskraft werde der neue Regionalplan frühestens Ende 2020 erlangen.

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Die Strategie der Wachstumsideologen
Sowohl bei der „Informationsveranstaltung“ in  Mimmenhausen wie auch in den diversen „Werbeaktionen“ (z. B. Instrumentalisierung des Amtsblattes durch den Bürgermeister; persönliche Anschreiben des Sparkasse-Direktors Wirtschaftsforum-Salem-Sprechers Ralf Bäuerle an die Gewerbetreibenden) der Protagonisten eines Entwicklungsschwerpunktes „Industrie und Gewerbe“ in Salem wird die von diesen benutzte Argumentationsstrategie deutlich: Es sind die vom Himmel fallenden „Bedarfe“, die unbedingt zu befriedigen seien. Wir erinnern uns: staatlicher Auftrag! Für die drei vom Regionalplan Bodensee-Oberschwaben umfassten Landkreise Bodenseekreis, Ravensburg und Sigmaringen mit ihren insgesamt 87 Kommunen etwa werde, Angaben von Franke, ein Bevölkerungswachstum („zusätzliche Einwohner“) von 60.000 bis 70.000 Einwohner bis 2035 angenommen. Und seit 2014 seien schon 20.000 davon eingetroffen. Dieser Zuzug verlange eine Flächenzuweisung von 11.000 Hektar für Wohnflächen bis 2035.

Sämtliche Bedarfe, ob die für Wohnraum, mehr aber noch die für Gewerbe, werden dabei von den Befürwortern immer absolut gesetzt. Dass diese in Wahrheit eben nicht vom Himmel fallen, sondern Ergebnis entsprechender Lenkungsprozesse und Steuerungsmechanismen sind, wird gezielt verschwiegen.

Dazu nur ein auf diesem Blog schon behandeltes Beispiel aus der Gemeinde Ostrach (Landkreis Sigmaringen). Die prostituiert sich inzwischen bei dem Werben um Gewerbeansiedlung derart, dass sie in entsprechenden Anzeigen ausdrücklich auf jede Moral verzichtet und verspricht, allen Gewerbeansiedlungsbegehren „vorbehaltlos“gegenüberzustehen.
Und, krawumm, da issa, der Bedarf!

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Sie können es vielleicht nicht erkennen, aber es sind die von Gott gegebenen Bedarfe, die da vom Himmel regnen. Denen muss sich der Regionalverband Bodensee-Oberschwaben bedingungslos unterwerfen. Dabei muss dann auch leider unberücksichtigt bleiben, dass in anderen Regionen dieser Welt inzwischen ganz andere Niederschläge zu verzeichnen sind, die ursächlich etwas mit Salem & Co. zu tun haben. Foto: Joujou / pixelio.de

Sie können es vielleicht nicht erkennen, aber es sind die von Gott gegebenen Bedarfe, die da vom Himmel regnen. Denen muss sich der Regionalverband Bodensee-Oberschwaben bedingungslos unterwerfen. Dabei muss dann auch leider unberücksichtigt bleiben, dass in anderen Regionen dieser Welt inzwischen ganz andere Niederschläge zu verzeichnen sind, die ursächlich etwas mit Salem & Co. zu tun haben.
Foto: Joujou / pixelio.de

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Eine andere Strategie ist die – verzeihen Sie meine Offenheit-  der fetten Lüge. Weder ist Salem bis dato ein Industriestandort, wie in Mimmenhausen behauptet wurde. Sonst könnte wohl kaum das Einkommensteueraufkommen die Einnahmen aus Gewerbebetrieben übersteigen (Behauptung Arnim Eglauer). Noch lassen sich Belege für diese Behauptung von Franke finden: „Wir sind eine der wirtschaftlich stärksten Räume Europas“.

In einem von finanzen.net veröffentlichten Ranking der wirtschaftlich reichsten Regionen Europas, das allerdings auf Daten aus dem Jahr 2011 basiert, kommt die Region Bodensee-Oberschwaben gar nicht vor. Und wer es nicht unter die 15 Besten schafft, gehört zweifelsohne eben nicht zu den „wirtschaftlich stärksten Räumen Europas“. Wie sollte das auch gehen? In einer aktuelleren Statistik, veröffentlicht von dem Portal Eurostat, zum Bruttoinlandsprodukt auf regionaler Ebene rangiert Deutschland mit der Stadt Hamburg auf Platz 4. Erst wenn man die Regionen außeracht lässt, verschiebt sich das Bild: Auf der Grundlage der Daten 2015 erzielt Deutschland eu-weit das höchste BIP (Quelle).

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Man würde sich wünschen, die Befürworter des Flächenfraßes, wie er im aktuellen Entwurf des Regionalplans Bodensee-Oberschwaben, vorgesehen ist, würden mit ihren Behauptungen auf dem Teppich bleiben. Sie dürfen sich dann die Farbe auch aussuchen! Foto: Aka / pixelio.de

Man würde sich wünschen, die Befürworter des Flächenfraßes, wie er im aktuellen Entwurf des Regionalplans Bodensee-Oberschwaben, vorgesehen ist, würden mit ihren Behauptungen halbwegs auf dem Teppich bleiben. Sie dürfen sich dann die Farbe auch aussuchen!
Foto: Aka / pixelio.de

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Ich nenne diese Argumentationsstrategie der Wachstums-Ideologen rund um den Regionalverband Bodensee-Oberschwaben die Nabel-der-Welt-Lüge. Indem man den Bürgern vorgaukelt, die von ihnen bewohnte Region sei nachgerade das wirtschaftliche Rückgrat der EU, schmeichelt man ihnen nicht nur. Sie werden unter dieser Last eigener Wichtigkeit auch zu mehr Zugeständnissen bereit sein – Dürresommer 2018 und drohend 2019 hin, Zyklone in Mosambik und Indien her.
Völker dieser Erde, schaut auf dieses Salem und erkennt …

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