Die Kabarettistin Christine Prayon hat am 21. September 2015 dem Tagesspiegel ein bemerkenswertes Interview gegeben. Bemerkenswert daran sind die Themen und die Ausführlichkeit: immerhin sechs Druckseiten! Wenn es ein Kabarettisten-Interview gibt, das auf die aktuelle Situation des Zunft rekurriert und die kabarettistischen Standards angesichts jüngerer Entwicklungen (wie z. B. die wachsende Popularität von Comedy) aktualisiert, dann ist es dieses.
Auf seitenhiebende Verweise anderer Ich-Ich-Ich-Interviews der jüngeren Zeit in Mimimi-Tonalität sei an dieser Stelle verzichtet.
Die Themen des Prayon-Interviews: von der gesellschaftlichen und politischen Missachtung (Stichwort: VG Wort) der wichtigen Arbeit der Kabarettisten (und Wortarbeiter generell) über die Differenz zwischen Kabarett und Comedy hin zu Aufgabe und Einfluss der heute-show. Weiter geht es mit der aufklärerischen Bedeutung der ZDF-Kabarettsendung Die Anstalt unter Berücksichtigung der Informationsfunktion von Kabarett bis zur Lyse der quälenden Grundsatzfrage „Was darf Satire?“
Dank an den „Tagesspiegel“ für das Thema „VG Wort“!
Für dieses Interview, das SaSe zur Aufnahme in die Geschichte des Kabaretts vorgeschlägt, sei dem Tagesspiegel gedankt. Auch deshalb, weil die Zeitung gleich zu Beginn des Gesprächs ein so wichtiges, aber sicherlich nur von wenigen Lesern einzuordnendes Thema wie die gesellschaftliche und politische Anerkennung publizistischer Arbeit im Allgemeinen und der von Kabarettisten im Besonderen stehenlässt. Sebastian Grundke verweist in einer Frage an Prayon auf die Vergütungsunterschiede der Verwertungsgesellschaft Wort (im Artikel irrtümlich als „Verwertungsgemeinschaft“ bezeichnet, abgekürzt: VG Wort) zwischen Comedy und Kabarett (doppelte Tantiemen). Prayons Antwort wird anderen Geschädigten der VG Wort wie Öl runtergehen:
Abgesehen davon [i. E. Verdienst von Mario Barth, Bülent Ceylan und Dieter Nuhr – Anmerkg. SaSe] , versuchen Sie mal, all das, worauf Sie Anspruch haben, bei der Verwertungsgemeinschaft oder der GEMA anzumelden. Das wird ähnlich unmöglich gemacht wie das Ausfüllen eines Hartz-IV- oder eines Elterngeldantrags. Die meisten Künstler kapitulieren beim Versuch, ihre Ansprüche wahrzunehmen. Das war auch bei mir bisher der Fall.
(Der Tagesspiegel 20.09.15: Christine Prayon aus der „heute-Show“ „Ich muss den Mächtigen die Hose runterziehen“)
Künstler, die bei dem genannten Versuch kapitulieren, kenne ich auch einige …
Und nur als kurzes Beispiel und Unterfütterung des angerissenen Themas: So ein erheblicher Aufwand, wie er auf diesem Blog in der Rubrik „TagesSenf“ für das Kuratieren von aktuellen Meldungen aus dem Bereich Satire und Kabarett notwendig ist, wird von der VG Wort überhaupt nicht vergütet, weil es sich mit dabei nicht um einen „zusammenhängenden Text“ handelt. Und der übrige Buhei mit dem Einbau von Zählmarken in (online) „vergütungsfähige“ Texte und die Anmeldung dieser zur Ausschüttung ist derart hoch, dass er in keinem Verhältnis mehr zu den zu erzielenden Einnahmen steht. Und diese Hürden haben System! Das ganze Verfahren ist derart kompliziert, dass im Internet eine Reihe von Gebrauchsanleitungen und Erklär-Artikeln zum Prozedere verfügbar sind (z. B. hier und hier). Der vom Tagesspiegel geduldete Themenexkurs sei mit diesem Gastbeitrag auf dem Blog des Journalisten und Medienkritikers Stefan Niggemeier zum Thema abgeschlossen, dessen zentrale These die Verletzung der gesetzlich definierten Treuhänderpflichten durch die VG Wort ist.
Kabarett versus Comedy
Eine der wertvollsten Differenzierungen Prayons ist die zwischen Kabarett und Comedy. Grundke zitiert sie in der Fragestellung: „Sie sagten einmal: „Comedy bedient Klischees, Kabarett bekämpft sie“. Er verbindet diese Unterscheidung dann mit der Reaktion des Komikers Dieter Nuhr auf diese Definition: Es sei „ein untauglicher Versuch der Heroisierung des eigenen Geschäftsmodells“. Darauf entgegnet Prayon, ohne sich auf die Nuhr-Äußerung weiter einzulassen:
Gibt es gutes und schlechtes Kabarett, gute und schlechte Comedy? Das sind Fragen, die tauchen in meiner Branche immer wieder auf, und ich finde: Comedy dient in Deutschland eher der reinen Unterhaltung und setzt auf Werte, die in den Köpfen der Leute schon verankert sind. Kabarett rüttelt an dem Bestehenden und stellt es infrage. Das ist ein großer Unterschied, und den finde ich wichtig. Wer den nicht macht, der versucht, dem Kabarett die Schärfe zu nehmen.
(ibid.)
Wichtig: „Dem Kabarett die Schärfe zu nehmen“! Das geht dann in die Richtung, die auf diesem Blog schon einmal als „kabarettistischer Populismus“ bezeichnet wurde. Und der macht damit so recht eine dritte Kategorie auf: Kabarettisten, die mit dem Anspruch Kabarett auftreten, bei genauerer Betrachtung jedoch nur das tun, was Comedy ist: reine Unterhaltung mit der Bedienung von Klischees (vgl. dazu auch SaSe48). Prayon hat dazu ein klares Urteil:
Man kann das Kabarett durchaus kritisieren. Mitunter geht es nicht weit genug, bleibt in reiner Anklage derer „da oben“ stecken und fühlt sich gemeinsam mit seinen Zuschauern wohl, anstatt sie und sich selber mit in die Verantwortung zu nehmen. In diesem Fall haben wir es aber vielleicht mit nicht so besonders gutem Kabarett zu tun.
(ibid.)
Von SaSe ergänzte aktuelle Beispiele für das Steckenbleiben in der „reinen Anklage derer da oben“: dies und das.
Pispers & Rether: Solche, die Ross und Reiter nennen
Unterscheidungsmerkmal des einen vom anderen ist häufig auch die fehlende konkrete Bezeichnung der „Täter“ und Verantwortlichen. Prayon nennt zwei prominente Beispiele für Kabarettisten, die den Mut dazu haben: Volker Pispers und Hagen Rether.
Bei der Kritik an der Verwendung von Klischees, Pauschalisierung und Simplifizierung durch Comedians (und fehletikettierte „Kabarettisten“) übersieht sie nicht, dass manche Dinge tatsächlich auch einfach sind: zum Beispiel Kapitalismuskritik:
Und manche Dinge sind nun mal einfach: Der Kapitalismus zeigt sich zwar immer wieder in neuem Gewand, aber am Prinzip der Ausbeutung hat sich doch durch die Jahrtausende nichts geändert. Im Gegenteil: Wir scheinen sogar in eine Art Mittelalter 2.0 zurückzufallen. Damit wäre das heutige Kabarett seiner Zeit dann wohl eher um 300 Jahre voraus.
(ibid.)
Als gäbe es kein Kabarett jenseits der „heute-show“
Etwas beleidigt ist SaSe ob der Tatsache, dass (auch) der Tagesspiegel und schon in der Überschrift Christine Prayon in Verbindung mit der heute-show bringt (bringen muss?), aus der sie unter ihrem Rollennamen Birte Schneider bekannt ist. Aber die – SaSe-Meinung – beste politische Kabarettistin, über die Deutschland derzeit verfügt, darf nicht auf besagte Birte Schneider als Anhängsel der heute-show reduziert werden. Dafür ist ihr kabarettistisches Gesamtwerk zu umfangreich, in der Botschaft zu anspruchsvoll und von der populären Show unabhängig. Die heute-show und Prayons gelegentliche Auftritte dort sind das sahnehäubelnde Plus, das die mediale Reichweite und Bekanntheit dieses Kabarettjuwels erhöht. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.
Im weiteren Gesprächsverlauf kommen dann so Standardfragen wie die nach dem Einfluss der Einschaltquoten der heute-show auf Prayon. Uninteressant, wenn man Prayon kennt: keiner natürlich! Die begnadete Schauspielerin und Künstlerin leistet sich dagegen etwas, was man heute bei den bekannten politischen Kabarettisten kaum noch findet: Glaubwürdigkeit durch Unabhängigkeit sowie intellektuelle (und organisatorische) Souveränität. Keine Verstrickungen in irgendwelche undurchschaubaren Netzwerke an der Seite von Aktienhändlern und Verschwörungstheoretikern.
Relevanter wird das Interview wieder dort, wo nach der „neuen“ Funktion von Kabarett – Information – zur Füllung journalistischer Leerstellen gefragt wird.
Ist die „heute-Show“ die bessere „Tagesschau“?
Eigentlich sollte die „heute-Show“ Satire bleiben und die Tagesschau Journalismus. Aber da die Tagesschau nicht gut ist, sollte man sich lieber die „heute-Show“ anschauen. Wir haben Zeiten, in denen die Satire den Job des Journalisten übernehmen muss. Wer sich zum Beispiel „Die Anstalt“ anschaut, der bekommt dort schon Dinge erklärt, die er in den Mainstream-Medien nicht erklärt bekommt. Eigentlich ist das bedenklich. Da sollte man sich die Frage stellen: Welche Arbeit leistet der Journalismus nicht mehr, dass es so etwas dringend braucht?
(ibid.; Hervorhebg. SaSe)
Gute Frage. Wichtige Frage. Ein Teil der Antwort steckt in den folgenden Äußerungen von Prayon:
Immer dann, wenn es richtig scheiße wird, vergrößert sich die Informationsfunktion, weil eine Lücke entsteht, die gefüllt werden muss. Wenn die Medien relativ gleichförmig berichten oder in eine Richtung Propaganda betreiben, übernimmt das Kabarett zwangsläufig die Aufgabe des Qualitätsjournalismus und bohrt dort nach, wo Fragen entstehen, gibt Informationen, die anderswo nicht gegeben werden und übernimmt auch die Aufgabe der Opposition. Vielleicht war das schon immer die Rolle des Kabaretts – aber eigentlich wünsche ich mir, dass sie das nicht nur ist.
(ibid.)
Die ewige Qualfrage nach den Grenzen der Satire
Ob der Tagesspiegel aus Pietät das Thema Die Anstalt nicht weiter vertieft (schließlich war Christine Prayon dort ursprünglich für die Nachfolge von Urban Priol und Frank-Markus Barwasser im Gespräch), darüber lässt sich nur spekulieren. Das Aufklärungspotenzial der Sendung jedoch bestätigt die „Animatöse“ ausdrücklich.
Über Charlie Hebdo geht es weiter zu den viel diskutierten Grenzen der Satire. Das teilweise doch recht angestrengte Ringen in den endlosen Diskussionen dazu löst Prayon spielerisch auf in: „Wenn man Satire macht, kann und darf man alles sagen. Aber man muss es nicht.“ Des Weiteren gäbe es auch die Grenzen, die sich der Künstler selbst auferlegt – zum Beispiel die des Geschmacks.
Thema verfehlt: Islamisierung Präkarisierung des Abendlandes
Prayons Aversion gegen den „Komiker“ (seine Selbstetikettierung) Dieter Nuhr ist kein Geheimnis (hier).
Herangeführt über die Themen „Grenzen der Satire“ und „Informationsaufgabe“ führt das Interview zu den (auch von Comedy und Kabarett) ausgeblendeten Themen in Politik und Gesellschaft. Schlimmer als die ausgeblendeten sind die verfehlten: zum Beispiel die angebliche Islamisierung des Abendlandes, wo sich doch recht eigentlich die Präkarisierung desselben gut sichtbar vollzieht. Auch über die Geheimdienste werde kaum noch gesprochen, so Prayon weiter, ebenso wenig wie über Snowden. Es fehle auch eine exaktere Definition von Terror.
Ich rede mich jetzt um Kopf und Kragen, man bietet ja auch Angriffsfläche wie ein Scheunentor, wenn man in dem Zusammenhang diese Position bezieht. Ich finde es halt mehr als fahrlässig, das Thema Islamismus so hochzukochen. Wenn Dieter Nuhr sich damit brüstet, als einer der ganz wenigen darüber zu sprechen, sollte man sich fragen, warum er nicht über andere Themen spricht, zum Beispiel die tieferen Ursachen des Terrors. Vielleicht ist eine Antwort: Weil er, wenn er über das Thema Islamismus spricht, eben beinahe die gesamte veröffentlichte Meinung hinter sich hat?
(ibid.)
Die Definition und das Verständnis von Terror bleibt Thema im Interview, wo es um die Entstehung desselben geht. Prayon nennt als Beispiel den jungen Ziegenhirten im Hindukusch, dessen gesamte Familie „versehentlich“ von einer US-amerikanischen Predator-Drohne weggebombt wird. Wenn dieser junge Mann dann zum hasserfüllten Taliban mutiere, könne er für einen Kabarettisten nicht Gegenstand von Witzen sein, denn er gehört zu den Verlierern des Systems.
Und genau an der Stelle reibt sich die Ausnahmekabarettistin wieder am Boulevard-Comedian (und – SaSe-Meinung – an den Etikettenschwindlern unter den „Kabarettisten“).
Die offene Flanke der Frau
Zum Schluss wird es sehr persönlich im Gespräch. Es geht um Frauen und es geht um die Frau und Mutter Christine Prayon. Grundke hakt nach der Schilderung der erschwerten Arbeits- und Tourbedingungen für die junge Mutter – die Kabarettistin hat einen eineinhalbjährigen Sohn – noch einmal nach. Sie bekräftigt die Notwendigkeit einer Frauenquote, sieht aber insbesondere im Kabarettbereich kaum Umsetzungsmöglichkeiten. Die Künstlerinnen dort sind selbstständig.
Ergänzung: Zur katastrophalen Frauenquote im Fernsehkabarett beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk siehe auch SaSe34. Sowohl das Fernsehkabarett vonseiten der Akteure als auch die Entscheider im öffentlich-rechtlichen Fernsehen missachten damit grob das, was die Gesellschaft und die Zuschauer wünschen, wenn man der neuesten und repräsentativen Emnid-Umfrage zu Frauen in den Redaktionen des ÖR Glauben schenken will (siehe Spiegel).
Wie schändlich manche Zeitungsleser diese Offenheit ausnutzen und sich nicht entblöden, Prayon aus diesen erschwerten Lebensumständen für eine moderne Frau, die den politisch und gesellschaftlich abverlangten schmerzhaften Spagat zwischen Familie und Karriere versucht, einen Strick zu drehen, zeigen die Leserkommentare unter dem Tagesspiegel-Artikel.
Mit diesem großartigen Interview leisten Tagesspiegel und Christine Prayon eine wichtige (und zumindest von SaSe zukünftig mutmaßlich häufiger zitierte) Standortbestimmung von Kabarett, dessen Abgrenzung zur puren Unterhaltung (Comedy), dessen leicht zu bestimmenden, wenn auch individuell definierten Grenzen, Themen und Aufgabe.
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