TS15/20: Spaichinger „Bergreden“ berichten von unfassbaren Zuständen im Rathaus

Das Thema Spaichingen ist ein berichtstechnischer Moloch. Dort hat es in den vergangenen acht Jahren so extrem viel Ärger und Aufruhr gegeben, dass ich kaum weiß, wovon ich Nicht-Spaichingern zuerst berichten sollte: Die vielen – teilweise noch anhängigen und nicht entschiedenen (Beispiel) – Rechtsstreite, die Bürgermeister Hans Georg Schuhmacher (parteilos) angezettelt hat? Den berühmten „Banner-Streit“ um Wahlplakate der Bürgermeister-kritischen Fraktion Pro Spaichingen, welche die Stadt – i. e. Schuhmacher –  im Kommunalwahlkampf 2019 habe abhängen lassen? Auch dazu läuft ein Gerichtsverfahren vor dem Verwaltungsgericht Freiburg, das aber noch nicht entschieden ist. Kläger ist in diesem Fall die Wählergemeinschaft Pro Spaichingen.

„Spaichingen ist so müde“, erklärt mir ein Insider im Telefonat. Müde der ewigen Auseinandersetzungen mit Bürgermeister Hans Georg Schuhmacher. Die kleine Stadt im Landkreis Tuttlingen kommt einfach nicht zur Ruhe. Tagesaktuell etwa meldet sich der Denkinger Bürgermeister Rudolf Wuhrer zu Wort und weist die Vorwürfe des Spaichinger FDP-Fraktionsvorsitzenden Leo Grimm in dessen „Bergrede“ zurück. Grimm – als Schuhmacher-Adlatus wahrnehmbar – hatte darin zum Thema Klinikum Spaichingen Vorwürfe an die Verwaltungsgemeinschaft (VG) gerichtet. Wuhrer deckt auf, dass Schuhmacher die Kollegen in der VG ausdrücklich angewiesen hatte, sich bei dem Thema zurückzuhalten.

Die „Bergreden“ (der Begriff ist eine Variante zu „Bergpredigt“) zu Beginn des Jahres haben in Spaichingen Tradition. Sie finden im Rahmen einer regulären Gemeinderatssitzung auf dem Dreifaltigkeitsberg in einer Gastwirtschaft statt.  Unter Begasung mit allerlei katholischem Woodoo. Und sie sorgten schon in der Vergangenheit für Wirbel.

Angesichts der bevorstehenden Bürgermeisterwahl war Tacheles zu erwarten. Was jedoch insbesondere die Fraktion Pro Spaichingen und die Grünen in ihren Wortmeldungen von der Gemeinderatsarbeit seit den Kommunalwahlen 2019 berichten, macht selbst den leidgewohnten Beobachter fassungslos. Erst recht die In.

Der Heuberger Bote überschreibt seinen Bericht dazu ganz neutral und unaufgeregt mit „Spaichingen aus unterschiedlichen Perspektiven“. Wenn die Lage in Spaichingen nicht so verzweifelt wäre, würde ich der SchwäZ aus dieser „Unaufgeregtheit“ einen Strick drehen.
Lobenswert ist die Tatsache, dass in der Online-Version des Heuberger Bote (jetzt!) alle fünf Fraktionsreden im Original verfügbar sind.

Für SaSe-Leser ohne SchwäZ-Online-Abo die „Bergrede“ der Fraktion Pro Spaichingen hier!

Die Rede des Pro-Spaichingen-Fraktionsvorsitzenden  Harald Niemann ist im Original fünf WORD-Seiten lang. Ich zitiere daraus diejenigen Passagen, welche Zustände im Rathaus Spaichingen beschreiben, die mit Demokratie wenig oder kaum etwas zu tun zu haben scheinen.
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Unkritische Gemeinderäte und Verstöße gegen die GemO
Niemann spricht das Problem der unkritischen Gemeinderäte an, die in Spaichingen – nach Wahrnehmung von außen – ausschließlich an der Seite von Bürgermeister Schuhmacher zu stehen scheinen.

Das Phänomen als solches ist allerdings keine spezifische Problematik in Spaichingen.

Nach Rückkopplung auf die Funktion des Gemeinderats in einem demokratischen Rechtsstaat kommt Niemand zu dem Schluss:

Für uns ist es sehr bedenklich, wie unkritisch dieses Gremium Gemeinderat die Debatten und Aussprachen teilweise begleitet. Und wie es sanftmütig haufenweise Verstöße gegen die Gemeindeordnung und die Sitzungsleitung hinnimmt.
(„Bergrede“ der Fraktion Pro Spaichingen Harald Niemann am 20.02.2020; Hervorhebg. K. B.)

Solche „Verstöße gegen die Gemeindeordnung“ waren auch das Thema beim selbstherrlichen Abbruch der Gemeinderatssitzung vom 16. Dezember 2019 durch Schuhmacher (Artikel im Heuberger Bote). Und die zuständige Rechtsaufsicht – in diesem Fall das Landratsamt Tuttlingeneiert auf Anfrage dazu im Vagen herum.

Niemann sieht diesen Eklat in einer Reihe vieler weiterer:

Das sehr unkritische Verhalten der Mehrheit des Gemeinderats führt auch dazu, dass der Bürgermeister sich in Spaichingen Dinge herausnehmen kann, welche in anderen Gemeinden undenkbar wären. Derzeit laufen die Gemeinderatssitzungen, so scheint es, wohl weniger nach den Regeln der Geschäftsordnung, sondern eher nach Lust und Laune des Bürgermeisters ab. Ein Musterbeispiel hierfür ist die abgebrochene Gemeinderatsitzung vom 16. Dezember 2019, welche ja bereits zur Genüge in allen möglichen Medien öffentlich diskutiert wurde.
Oder als weiteres Beispiel: Anträge von Pro Spaichingen werden regelmäßig abgeblockt oder ignoriert.
(ibid.; Hervorhebg. K. B.)

Das allerdings ist ein gravierender Vorwurf: Anträge einzelner Gemeinderatsfraktionen werden ignoriert?  Ich würde BüM Schuhmacher gern um eine Stellungnahme zu diesem Vorwurf bitten. Allein: Bisher beantwortet er eine Presseanfrage dieser Redaktion – und wohl auch (einzelne?) Presseanfragen des Heuberger Botenicht. Allein das ist schon ein Regelverstoß, denn gemäß Landespressegesetz Paragraf 4 muss er.
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Unkritische Gemeinderäte kosten Steuergeld
Am Beispiel der Ausschreibung zu den Arbeiten am Kreuzplatz und der Gehwegbereiche zeigt Niemann auf, wie so eine unkritische Gemeinderatsarbeit zu enormen Kosten führen könne bzw. mögliche Kostenminderung verhindere. Auch das geht offensichtlich nicht ohne – von der Fraktion Pro Spaichingen so bewertete – Verstöße gegen die Gemeindeordnung, wenn zum Beispiel Bürgermeister Schuhmacher über gestellte Sachanträge (der Fraktion Pro Spaichingen) nicht abstimmen lasse.

Wie unkritisch die Räte der Freien Wähler, der FDP– und der CDU-Fraktion sowie des einzigen SPD-Rats de facto sind, ist sehr eindrücklich deren „Bergreden“ zu entnehmen. Sie alle sind in diesem Artikel des Heuberger Bote im Original zu lesen.
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„Lässiger Umgang des Bürgermeisters mit geltendem Recht“
Lob an die Fraktion Pro Spaichingen, für die kritisierten Rechtsverstöße immer wieder einen Euphemismus oder Dysphemismus zu finden, der dann hoffentlich verhindert, dass Schuhmacher erneut rechtlich gegen seine Kritiker vorgeht. Die Wendung „lässiger Umgang des Bürgermeisters mit geltendem Recht“ darf diesbezüglich als gelungen bewertet werden:

Weitere Beispiele für den für uns sehr lässigen Umgang des Bürgermeisters mit den rechtlichen Bestimmungen:
In der Gemeindeordnung und in der Geschäftsordnung für den Gemeinderat ist festgelegt, dass Protokolle einer Gemeinderats- oder Ausschusssitzung spätestens innerhalb eines Monats zur Kenntnis des Gemeinderats zu bringen sind. Es ist leider traurige Tatsache, dass seit der Amtszeit des neu gewählten Gemeinderat, welche am 1. Juli begonnen hatte, bislang noch nicht ein einziges Protokoll der abgehaltenen 12 Gemeinderatssitzungen, sowie jeweils 2 Sitzungen des Technischen sowie des Verwaltungsausschusses vorliegt.
(ibid.; Hervorhebg. K. B.)

Unglaublich: Die Gemeinderäte – oder manche davon? – erhalten seit Monaten keine Protokolle der Gemeinderatssitzungen? Und die Rechtsaufsicht schreitet nicht ein? Hier muss man füglich an dem Funktionieren des Rechtsstaats auf kommunaler Ebene und im Zuständigkeitsbereich der Landratsämter zweifeln!
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„Chaos“ im Gemeinderat Spaichingen
Folgerichtig müssen solche Zustände zum reinen Chaos in einer Kommune führen. Niemann bestätigt das:

Und noch ein weiteres Beispiel für das aktuelle Chaos :
Im Juli wird der Sitzungsplan für das kommende Halbjahr veröffentlicht, wonach am 25. November die Einführung in den Haushaltsplan, sowie am 9. Dezember die Beratung über die Anträge der Fraktionen zum Haushalt anberaumt ist. Am 30. September hatte der Gemeinderat über einen ökonomisch gegliederten Ablauf der Haushaltsberatungen diskutiert, an dessen Ende der Vorsitzenden einen Ablaufplan der Haushaltsberatung zusammen mit dem ersten Haushaltsplanentwurf ankündigt hatte. Bis heute, wo eigentlich der Haushaltsplan der Stadt für das Jahr 2020 verabschiedet werden sollte, liegt den Gemeinderäten noch nicht einmal ein vollständiger Haushaltsplan vor. Da hätte man sich die Diskussion vom 30. September auch sparen können.
(ibid.; Hervorhebg. K. B.)
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Ein Prozesshansel als Bürgermeister … kostet viel Geld
Auch auf die Vielzahl von Rechtsstreitigkeiten rund um die Person Hans Georg Schuhmacher geht Niemann ein:

Und wir fragen uns: Was kann Spaichingen von einem Bürgermeister erwarten, der anstatt im gemeinsamen konstruktiven Gespräch eine außergerichtliche Lösung anzustreben, nur die knallharte Konfrontation vor Gericht kennt ? Eine friedliche Beisetzung von Meinungsverschiedenheiten scheint ihm völlig fremd zu sein. Alleine gegen Pro Spaichingen oder deren Mitglieder laufen derzeit drei Rechtsstreite – die übrigens allesamt von der Stadt bereits verloren wurden, oder die sie noch verlieren wird. Und dies sind beileibe noch nicht alle Rechtsstreite, um die sich die Stadt entweder als Kläger, oder als Beklagte kümmern muss. Man kann sich nur in etwa ausmalen, was dies die Stadt an Aufwand von Zeit und Geld kostet. Dabei liegt die Ursache für die Klagen zumeist an fehlender Kompromissbereitschaft, oder an Gesprächsverweigerung. Oft genug sind die Anlässe für die Rechtsstreite regelrecht an den Haaren herbeigezogen.
(ibid.)

Wenn diese Zustandsbeschreibung den Fakten entspricht, muss sich jeder Beobachter erneut fragen, was in unserem Land und speziell in Baden-Württemberg mit einer herausgehobenen starken Position des Bürgermeisters eigentlich schiefläuft, wenn die Aufsichtsbehörden all dem über Jahre hinweg tatenlos zusehen. Da wird Demokratie zur Farce.
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Alleingänge von Bürgermeister Schuhmacher
In diesem Stil geht es munter weiter:

An der Klinikdebatte konnte man auch gut ablesen, welchen Stellenwert der Gemeinderat für unseren Bürgermeister hat, nämlich gar keinen. Selbst in einer für Spaichingen solch existentiellen Frage wie die Haltung des Klinikstandortes hielt es der Bürgermeister nicht für nötig, mit dem Gemeinderat die weitere Taktik abzustimmen, um das bestmögliche Ergebnis für Spaichingen und die Klinik herauszuholen, sondern fuhr wie immer ein Einzelrennen. Dies gipfelte darin, dass der Bürgermeister ohne irgendwelche Rücksprache von sich aus Zusagen zur teilweisen Übernahme von Defiziten des Klinikbetriebes gegenüber dem Landrat machte, und dass trotz Abwesenheit des Bürgermeisters bei der öffentlichen Diskussionsveranstaltung mit dem Landrat in der Stadthalle – der Urlaub war anscheinend wieder einmal wichtiger – der stellvertretende Bürgermeister lediglich ein vorgefertigtes Pamphlet des Bürgermeisters verlesen durfte.
(ibid.)
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Diskreditierung über das Narrativ des Nestbeschmutzers
Die Erzählmuster zur öffentlichen Diskreditierung kritischer Bürger und Gemeinderäte sind ein Nebenthema auf diesem Blog. Dabei war auch schon vom Narrativ des Nestbeschmutzers die Rede. Das kommt auch in Spaichingen eifrig zur Anwendung, wie dieser Passus der „Bergrede“ von Pro Spaichingen verrät:

Ja, Sie alle haben Recht, wenn Sie meinen, Pro Spaichingen übt nur Kritik. Wir haben lange überlegt, ob wir auch etwas Positives aus dem letzten Jahr ziehen können. Das einzig wirklich Positive war, dass sich die Wähler nicht haben beirren lassen von den vielfachen Verletzungen der Neutralitätspflicht der Stadt und des Bürgermeisters während des Wahlkampfs, etwa bei der aktiven Wahlhilfe für einen kurzfristig einzubürgernden SPD-Kandidaten, bei politischen Veranstaltungen in der Stadthalle während des Wahlkampfs, bei eigenmächtigem Abhängen von Wahlplakaten, um nur einige zu nennen. Trotz all diesen [sic] Bemühungen haben die Wähler Pro Spaichingen und den Grünen Sitzgewinne zugesprochen, und den als Bürgermeister-kritisch eingestuften Listen insgesamt 56 % der Stimmen gegeben. Hierfür nochmals im Nachhinein ein großes Lob und herzliches Dankeschön an die Wähler.
(ibid.; Hervorhebg. K. B.)
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Das katastrophale Demokratieverständnis des FW-Fraktionsvorsitzenden Staudenmayer
Wie schlecht es um die Demokratie in Spaichingen bestellt ist, belegt eindrücklich ein katastrophales Diktum von Heinrich Staudenmayer, Fraktionsvorsitzende Freie Wähler, zum Schluss seiner „Bergrede“ am 20. Januar 2020. Mit Bezug auf die anstehende Bürgermeisterwahl und die Bewerbung von Markus Hugger (CDU), bisher Bürgermeister in Immendingen, schreibt und schwört er diesen demokratischen Offenbarungseid:

Wie Sie sehen, ist Spaichingen Alles in Allem [sic] ein gemachtes Nest, in das sich der eine oder andere Auswärtige gerne setzen würde, das es zu bewahren und weiterzuentwickeln gilt. Und gemäß einer alten Weisheit wechselt man nicht mitten im Rennen die Pferde.
(„Bergrede“ Heinrich Staudenmayer, Fraktionsvorsitzender Freie Wähler Spaichingen 20.01.2020)

Ein Bewerber in dem demokratischen Verfahren einer Bürgermeisterwahl trachte, sich „ins gemachte Nest“ zu setzen? Wer solchen Bullshit öffentlich verbläst, muss sich nach seinem Verständnis von Demokratie fragen lassen.

Im Übrigen erfüllt Spaichingen wohl kaum die Kriterien eines gemachten Nestes, wenn der Gemeinderat weder seine Sitzungen ordnungsgemäß abhalten kann noch einen Haushaltsplan 2020 verabschiedet kriegt (siehe oben), ein Bürgermeister Presseanfragen nicht beantwortet und die Rubrik „Aktuelles“ auf der Gemeinde-Homepage zur Veröffentlichung von Presseschelte missbraucht.

Der Dollpunkt dieses demokratiegefährlichen Dummfugs allerdings ist die Metapher vom Pferderennen. Offensichtlich haben die Spaichinger Freien Wähler noch nicht mitgekriegt, dass das „Rennen“ – zumindest um den Sessel des Verwaltungschefs – am 15. März 2020 erst einmal beendet ist. Dann startet ein neues. Vom Pferdewechsel im Verlaufe desselben kann also überhaupt keine Rede sein.

Mein Eindruck: Allerdings verbreitet sich unter den von all den Streitigkeiten komplett erschöpften Spaichinger Bürgern zunehmend der wutgehärtete Wille, dem bisherigen Gaul das Gnadenbrot zu gönnen. Mit mehr Brot als Gnade.
Man kann sie verstehen …

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